Dienstag, 29. Juli 2014

Der Jazz-Pianist






Im Rahmen eines Praktikums

während meiner Ausbildung zum Altentherapeuten

traf ich ihn



In einem Alters- und Pflegeheim

(aber die heißen heute ja Residenzen)

bewohnte er ein Zimmer

und war außerhalb der Mahlzeiten kaum zu sehen



Ich hatte Ideale

und organisierte einen Männerstammtisch

und wollte

alle Männer eingeladen und angesprochen haben

Also klopfte ich bei ihm an



Die Pflegekräfte und die Leitung des sozialen Dienstes

sagten mir

dass es sinnlos wäre

und er zu niemanden Kontakt wollte

aber ich wollte es selber wissen

und trat dann in das Zimmer



Freundlich ließ er mich hinein

und das erste

was ich im Zimmer wahrnahm

war das Keyboard

Und dann der Plattenspieler

und das Regal mit den Platten

„Welcome to my world“

Grinste er mich an



“Hallo.

Ich bin H.B.

und mache hier ein Praktikum zum Altentherapeuten.

In dem Rahmen wollte ich mich vorstellen.

Und sie fragen,

ob sie nicht auch Interesse an einen Männerstammtisch hätten.“



Er lächelte.

Schüttelte den Kopf.

Und winkte ab.

„Das ist nichts für mich.

Danke sehr.“



Sein Blick sollte mich zur Tür und hinaus lenken,

ich wollte gehen

aber ich hatte die Schallplatten entdeckt.



„Sind das Blue Note Records?“

fragte ich aus einer Ahnung heraus.

Er nickte grinsend.

„Sind sie Jazz-Kenner?“

„Leider nein. Ich bin eher Rock’n’Roller.

 Aber Blue Note erkennt doch jeder!“

Er schüttelte den Kopf:

„Hier niemand…“



Jetzt lenkte mich sein Blick zum Sessel

und er lud mich ein,

mich zu setzen.



„Hier: Billie Holliday in der Erstauflage.

und hier John Coltrane.

Ich brauche die Belustigungen vom Personal nicht,

auch wenn sie sich Mühe geben…“



Ich nickte.

„Muss die Hölle sein,

einem schlechten Musiker bei

Schwarzbraun ist die Haselnuss zuzuhören!“

„Es geht. Aber ich muss es mir nicht antun.“



Rheuma ist eine Höllenplage.

Er hatte ne besondere Form von SLE. Lupus.

Alleinsein ist auch eine Höllenqual.

Er war nicht alleine. Er hatte den Jazz.

Er war um die 70.

Und lebte nun in einem Ghetto der Alten und Kranken.

Mit Bingo und Heimatmusik und WDR 4.

Ich war froh über sein Zimmer

und beschloss

ihn in Ruhe lassen.



„Wenn ich kann,

dann spiele ich auf meinem Keyboard.“

Er konnte nicht mehr oft.



Aber er spielte mir eine Platte vor

die er kurz nach dem zweiten Weltkrieg aufgenommen hatte.

Mit allen möglichen Jazz-Größen.



Und als ich die hörte,

wusste ich,

warum er nicht zu den „Konzerten“ im Heim ging.



Ich blieb viel zu lange bei ihm

(aber ich war Praktikant und schiss drauf…)

und beim ersten Männerstammtisch tauchte er wahrhaftig auf.



Er setzte sich zu den anderen Männern

und hörte zu.

Es wurde viel Blödsinn geredet,

aber generell waren die Männer mal froh

unter sich zu sein

und lästerten und erzählten schlüpfrige Witze und vom VfL Bochum

und ich merkte,

dass ihnen dies ansonsten im Heim fehlte

(Anmerkung: der Männeranteil in Heimen liegt bei ca. 20%. Und viele sind nicht wegen Alter, sondern wegen Erkrankungen oder Behinderungen untergebracht. Und für die Männer ist ein Heim die Hölle – für jeden Menschen ist ein Heim die Hölle, aber für Männer eben noch mehr…)



Beim dritten Männerstammtisch setzte er sich ans verstimmte Piano

und spielte eine kleine Improvisation

bei der ich die Ohren anlegte

und mir ein Glas Wein und eine Zigarette wünschte.

Die anderen Männer waren verstimmt

und wollten lieber Stammtischwitze erzählen.

Er nickte mir zu

und kam die nächsten Male nicht mehr.



Wrong place, wrong time, wrong man

Was sol ich sagen?

Würde ich seinen Namen erwähnen

würden Jazz-Kenner aufhorchen

aber ich werde den Teufel tun.



Ich habe keine Ahnung vom Jazz

aber ich weiß

dass Blue Note Records das ultimative Label für Jazz ist.

„Als Blue Notes bezeichnet man Töne, die in besonderem Maß den Bluescharakter von Melodien prägen. Im engeren Sinne versteht man darunter die kleine Terz, die kleine Septime und die verminderte Quinte.“



Ich habe keine Ahnung

von vielen Dingen.

Und ich kann die Welt nicht retten.

Und nicht alle Einzelschicksale.



Wenn ich könnte

würde ich einen Song für den Jazz Pianisten schreiben.

Ein Instrumental

mit einer langen Keyboard-Phrase.

N Schlagzeug mit Swing-Touch.

N Sax und n dezenter Gitarren-Background.

Und ein Contra-Bass, der in die Eiern knallt.

Basis wären Blue Notes

- und das würde ich sogar hinkriegen,

aber nicht in der Qualität der Meister –

Ich kann das nicht.



Ich kann nur dieses Gedicht.



Und hoffe

ihm geht es gut

- den Umständen entsprechend…


Graphik von Helmut Schida

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