Samstag, 5. Januar 2013

Reha 4



Das erste Drittel der Reha habe ich hinter mir.
Der Tag setzt sich zusammen aus den Mahlzeiten, den Anwendungen und Langeweile.
Oder auch nicht: ich schreibe viel, gehe ins Schwimmbad und in die Sauna, umrunde den See, telefoniere, versuche ins Internet zu kommen. Volles Programm…
Blöd ist immer die kurze Pause zwischen Anwendungen. 10 oder 15 Minuten reichen nicht einmal, um in den Raucherpavillon zu gehen. Einfach doof.

Ich hab ja schon erwähnt, dass der Speisesaal für mich Folter bedeutet. Diese wird gemildert durch die mittlerweile wirklich nette und witzige Tischrunde.
Der alte Herr, der die ersten drei Mahlzeiten keinen Ton rausbekam, ist mittlerweile zum Witzereißer und Quasselkopf mutiert. Klasse! Eine Dame mit Tracheostoma und ein Herr mit künstlichem Kniegelenk und ein Junge von 21 Jahren mit Zustand nach kollabierter Lunge vervollständigen mit mir das Quintett. Und wir unterhalten uns angeregt und haben Spaß. Soviel Spaß, dass eine alte Dame am Rollator vorbeikam und uns fragte, wie wir es schaffen, die ganze Zeit zu lachen.
Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung wie wir es schaffen. Aber wir schaffen es.

Die manuelle Logopädie tut weh. Sie tut verdammt weh aber sie tut auch verdammt gut. Mit Fingern und Händen bearbeitet die Therapeutin meinen Schädel und dann hauptsächlich meinen Kiefer und Gaumen. Sie findet alle Muskeln und Verspannungen und versucht, diese zu lockern. Und ich merke wahrhaftig positive Effekte. Geil! Dafür nehme ich die Schmerzen gerne in Kauf: Ich werde nicht klarer artikulieren können, aber ich habe zumindest zeitweise einen weniger verspannten Schädel.
Meine Logopädin war Leistungssportlerin in der DDR. Turnerin. Sie hat eine kaputte Wirbelsäule, aber die haben alle Turnerinnen. Weltweit.
Die Horrorstories, die wir damals im Westen über den DDR-Sport hörten, stimmen nur zum Teil. Zum anderen Teil spielte da eine Menge Neid und Propaganda (die gab es auch bei uns im Westen) mit.
Und die DDR hatte eine hervorragende Sportförderung, ein Scouting, das schon in den Schulen ansetzte und eine wissenschaftliche Begleitung, die teilweise auch Verbrechen verübte, aber oft einfach nur wissenschaftliche Erkenntnisse und Training kombinierte.

Tja. Und jetzt habe ich auch einen Kurschatten. Nein. Nicht, was ihr denkt!
Seit meiner Kindheit ziehe ich die Außenseiter und Freaks an. Das war schon immer so. Und gestern stand er dann im Raucherpavillon plötzlich neben mir. Vielleicht bemerkte er eine Art gleicher Geschichte, da ich mir meine Zigaretten selber drehe. Keine Ahnung. Er zitterte, hatte keine Zähne mehr im Mund und war völlig abgemagert. Noch ein Gollum mehr. Genauso sah ich vor sechs Jahren aus.
„Ich habe gerade die Bestrahlung hinter mir und bin jetzt in der Anschlussheilbehandlung. Was für ein Mist!“
Ja. Mist. Aber eigentlich brauche ich nicht andauernd Erinnerung an die schlimmste Phase meines Lebens.

Ich mag kein Mitleid, ich habe selber genug gelitten und ich möchte nicht, dass andere das mit mir teilen. Und ich kann nicht das Leid der ganzen Welt teilen, dafür – siehe oben – habe ich zu viel hinter mir.
Nein. Ich bin nicht so ein kaltes Arschloch, wie das hier rüberkommt. Trotzdem.

Es gibt noch so vieles zu berichten. Es gibt eigentlich nix zu berichten. Irgendwie dazwischen.
Morgen (oder, wenn ich das ins Netz stelle heute) kommen meine Nichte und ihr Freund, die auch irgendwo in Thüringen wohnen und befreien mich für n paar Stunden aus der Reha.
Das wird schön. Ich freue mich.

Gute Nacht!

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