Montag
ist es auf den Tag genau neun Jahre her.
Danach musste ich ca. ein Jahr ohne Zähne leben, bevor mir Implantate gesetzt wurden, an denen eine Prothese aufgesetzt wurde.
Danach musste ich ca. ein Jahr ohne Zähne leben, bevor mir Implantate gesetzt wurden, an denen eine Prothese aufgesetzt wurde.
Nach
8 Jahren sind die Implantate durch. Beziehungsweise meine Kieferknochen.
So
wird also ein neuer Knochenaufbau versucht und ich lebe wieder ohne Zähne.
Mittwoch
startet der Scheiß, der aber ein Klacks gegen die Krebsoperation ist.
Diesmal
ist es nicht lebensbedrohend, sondern nur lebensqualitätszerstörend.
LESEPROBE
aus „Ausgehöhlt – Im Krebsstrudel“ von Hermann Borgerding:
Der
entscheidende Morgen. OP-Hemd. OP-Haube. Die Scheißegal-Pillen. Klasse! Jetzt
ist es mir wirklich scheißegal. Ich lache und versuche Witze zu machen, aber
irgendwie funktioniert das nicht. Dann schieben sie mich durch den Nebel. Ich
glaube, mir ist kalt. Ich weiß, ich hab Angst. Dann weiß ich nichts mehr…
Ich
habe eine Erektion. Eine geile Blonde fummelt an meinem Penis, manipuliert,
benutzt die Hände. Ja! Nimm ihn in den
Mund! Schluckst du auch? Sie führt mir etwas in meine Harnröhre, die
Erektion schwindet, das ist nicht meine Form von Sex.
Trompetensolo.
Eigentlich mag ich keine Trompeten. Es schaukelt. Bin ich auf einem Boot? Ich
bin auf einer Fähre auf dem Ozean. An der Reling steht Helga Feddersen und der
unvergleichliche Sven Regener singt. „Niemand ist gern allein, mitten im
Atlantik / diesmal, mein Herz, diesmal fährst du mit“.
Ich muss kotzen. Nee, muss ich gar nicht.
Überall Blut. Die Putzfrau wischt es auf – halt, das heißt ja jetzt
Reinigungsfachkraft. Aber deshalb bekommt sie auch nicht mehr Geld. Es wackelt.
Ich knutsche. Ein geiler Zungenkuss mit einer Unbekannten, unser Speichel
vermischt sich. Als wir den Kuss beenden greift sie meine Zunge mit den Fingern
und schneidet sie ab. Dann kratzt sie mit einem Löffel meinen Mund aus. Es
regnet, Gott segnet, die Erde wird nass. Ich habe keine Schmerzen, ich spüre
nichts. Ist das hier ein Traum? Träumt man in der Narkose? Ich sehe einen
Engel. Ich sehe mich auf dem OP-Tisch. Ach so. Ich habe einen Katheter. Is nix
mit Oralsex – war nur das Katheterlegen.
Blut,
Schleim, aufgesägte Knochen. Verbranntes Fleisch. Die Decke bröckelt über mir.
Merken das diese Idioten denn nicht? Der Putz rieselt auf mein Gesicht, ich
habe einen dicken Brocken in meinem Mund, verschlucke mich daran, ersticke.
Nee. Jetzt ist er runter gerutscht. Ich ersticke doch nicht. Muss scheißen.
Kann es nicht halten. Egal.
Rio singt von einer vergangenen Liebe.
Junimond im Januar. Ich zerfließe. Fühle Brüste, große Brüste. Versteifte
Brustwarzen. Ich nuckel immer gerne. Ich trete die Brüste – auf einmal haben
sie sich in Fußbälle verwandelt. Ein klasse Schuss von mir, aber der Torwart
fliegt und klatscht den Ball noch um den Pfosten. Der Torwart bin ich.
Verbranntes Fleisch, brennende Haare. Es stinkt erbärmlich aber meine Nase ist
zu, gefüllt mit irgendwas – was weiß denn ich. Ich will schlafen. Das ist
ekelhaft. Merken die denn nicht, dass die Narkose gar nicht anschlägt, ich den
Horror live erlebe?
Ich
springe vom 3-Meter-Brett und tauche glatt in das kalte, perlende Wasser.
Schön.
Ich
tauche ab und bin wieder weg…
Es
stürmt.
Break.
Weiß.
Alles weiß. Ich tauche ein in weißes Licht, werde zu weißem Licht. Irgendwie
so. Oder anders. Nicht in Worte zu fassen. Ich bin weißes Licht.
Break.
Ich
habe Angst vor der Liebe.
Ich
habe Bock auf Zärtlichkeit, Bock auf Nähe, Bock auf Wärme und Bock auf
Gemeinsamkeit. Aber ich habe Angst vor der Liebe und bei mir kommt die Liebe
schon oft bei nur einer dieser Sachen angeschlichen. Und hat mich dann im
Griff. Aber volle Kanne.
Eines
meiner Probleme: Ich verliebe mich zu schnell. Und dann halte ich zu fest und
dann will ich nicht mehr loslassen und dann falle ich irgendwann auf die
Schnauze und dann tut es wieder höllisch weh. Und das tut es dann immer:
höllisch
weh.
Break.
Wo
bin ich? Bin ich noch am Leben? Wer bin ich? Was bin ich? Warum bin ich? Bin
ich?
Break.
Ich
auf der Schulter meines Vaters. Pferderennen in Castrop-Rauxel. Ich bin ca. 4
Jahre alt. Und fühle mich unbesiegbar. Beschützt. Viel zu selten hat mein Vater
mir dieses Gefühl vermittelt.
Break.
Ich
in einem Krankenzimmer. Ich bin 5 Jahre alt und hatte einen Unfall. Die Kette
meines Fahrrads war gerissen, ungebremst fuhr ich ein Gefälle runter, knallte
mit dem Vorderrad an die Bordsteinkante, flog und überschlug mich, landete mit
dem Kopf an einer Mauer. Gehirnerschütterung, Armbruch, Nasenbeinbruch,
Kieferbruch. Meine Mutter füttert mich mit einer Schnabeltasse und frisch
gekochter Suppe. Meine Schwester und meine Freunde stehen unten vor dem Fenster
und rufen nach mir. Sie dürfen das Krankenzimmer nicht betreten. Eine riesige Zahnlücke
wird mich bis zu meinem achtzehnten Geburtstag begleiten. Ich bin fest
überzeugt, dass der Kieferbruch und die seit frühester Kindheit fehlenden
Schneidezähne und die ständige Zahnklammer mit Auslöser für den Krebs sind. Nicht
nur das Rauchen.
Break.
„Ich
bin doch gerade erst gewaschen worden!“
Ich
weiß, dass das nicht stimmt.
„Aua!
Du tust mir weh!“
Ich
habe sie noch gar nicht berührt.
Die
Dame im Bett ist eine meiner Lieblingspatientinnen. Sie hat fürchterliche
Angst, vor jeder Bewegung und jeder Berührung.
Ich
versuche, zügig und vorsichtig nur das Nötigste zu machen. Eine Intimpflege und
den alten Schweiß entfernen. Das muss einfach sein, sonst geht mir diese Dame
noch mehr auf, wird zur liegenden Ganzkörperwunde. Und hat dann noch mehr
Schmerzen.
Nach
der Körperpflege setze ich mich an die Bettkante, nehme ihre Hand. Sie wird
ruhig, entspannt sich. Grinst mich an:
„Ich
habe dich lieb…“
Ich
nicke: „Ich Sie auch…“
Break.
All
diese Bilder. Jedes Bild erzählt eine Geschichte. Wie ein Stummfilm läuft das
ab. Ist das mein Leben, das sich vor meinem inneren Auge abspult?
Ich
sehe Thomas, Susanne, Karen, Anne. Ich sehe meine biologische Schwester, obwohl
ich die vier Freunde eher als meine wahren Geschwister bezeichnen würde.
Blutsbrüderschaft oder so. Aber von Blut will ich nichts wissen.
Ich
sehe meine Mutter, sie weint. Sie soll damit aufhören! Wenn, dann hätte ich
einen Grund zu weinen! Jetzt muss ich sie trösten.
Irgendwie
weinen plötzlich alle. Selbst Thomas. Da muss ich auch weinen. Meine Tränen
vermischen sich mit Blut.
Break.
Ich
liege in einer Pfütze. Das Wasser rinnt aus all meinen Poren und füllt das
Krankenbett. Wenn die das nicht bald wegmachen, werde ich ertrinken! Ich habe
keine Beine und Arme mehr. Was ist das auf meinem Hals? Das ist doch nicht mein
Kopf! Was ist das in meinem Hals? Das
gehört da nicht hin! Ich kriege keine Luft mehr! Hilfe!
Und
dann kommt endlich wieder diese milchige Nebelsuppe. Hüllt mich ein, wie in
Watte. So möchte ich bleiben.
Break.
In
und um mir Musik. Neben mir Thomas, der seine Riffs auf der Gitarre spielt und
mich im Rhythmus stützt. Anne gibt an den Drums einen tierischen Beat vor,
treibt uns an. Klaus hämmert das Bass-Grundgerüst. Ich dresche auf meine
Gitarre ein, tanze zum Mikro. Singe Jenseits von Eden. Plötzlich steht Rio
Reiser neben mir, stimmt ein:
„Heiß heiß kochend heiß
weiß weiß blühend weiß
Liebe was ist das
das ist das Leben in der Stadt
Was soll daran schlecht sein
Liebe kommt von Unten
Liebe hat schwache Worte
Ich will nicht, dass du in schwarz gehst
wenn ich tot bin
Ach ich bin so müde
Will zurück ins Leere
Heiß!“
Was
soll das? Dieses Lied können wir unmöglich covern! Rio ist viel zu gut! Da kann
man sich doch nur blamieren!
Merkwürdigerweise
schaffen wir es. Ich komme sogar mit der Atmung und dem Gesang klar. Und wir
stecken voller Energie, vereinigen diese, können sie in unsere Instrumente
packen und bringen es voll rüber! Dieses geile Gefühl ist unbeschreiblich. Ein
gemeinsamer Orgasmus. Ein Rausch, völlig ohne Drogen und deshalb klar und umso
intensiver. Heiß!!!
Break.
Ich
glaube, langsam tauche ich auf.
Wenn
mich nicht alles täuscht, dann höre ich einen fürchterlichen Sturm. Aber das
muss draußen sein. Irgendjemand wischt irgendwas auf. Bilde ich mir das ein,
oder haben sich da wirklich Fliesen von der Wand gelöst? Wo bin ich?
„Atmen
sie! Sie müssen atmen!“
Ich
mache es. Werde von der künstlichen Beatmung abgestöpselt. Versuche, zu
sprechen.
„Nur
ruhig. Sie liegen auf der Intensivstation und haben die Operation überstanden.
Gleich werden Sie abgeholt und zurück auf ihr Zimmer gebracht.“
Eine
Schwester und ein Pfleger. Ich nehme sie kaum wahr. Bekomme aber mit, dass sie
sich fürsorglich und intensiv um mich kümmern.
Bin
ich jetzt wirklich wieder da? Oder ist das nur ein anderer, etwas freundlicher
Traum?
Ich
kann mich nicht bewegen. Es kommt mir vor, als hätte ich überall Schläuche und
künstliche Ein- und Ausgänge. Dann kommt eine Krankenschwester, die ich zu
kennen glaube.
„Hallo
Herr Borgerding. Wir bringen Sie wieder zurück.“
Keine
Ahnung, wie oder was. Aber ich habe es überstanden. Aus meinen Augen fließen
Tränen. Ein Sturzbach. Ich weine ungehemmt.
Ich
lebe.
Der
Tag meiner Operation ist der Tag, an dem Kyrill über Nord-Rhein-Westfalen tobt.
Das
wird mir später erzählt. Ich bekomme vom Sturm nichts mit. 13 Stunden liege ich
auf dem OP-Tisch. Es ist verdammt knapp und der Professor erzählt mir später,
dass er meine Patientenverfügung „ein wenig auslegen“ musste. Es fließt viel
Blut, eine Halsschlagader muss geflickt werden. Mein Hals und fast der gesamte
Oberkiefer werden massiv leer geräumt.
Nach
zwei Tagen komme ich von der Intensivstation wieder auf mein Zimmer. Ich bin
noch nicht ganz da. Ich glaube, meine Schwester und meine Nichte zu sehen. Ich
sehe Susanne und hebe den Daumen hoch, als Zeichen, dass alles gut gegangen
ist.
Ich
weiß nicht genau, ob alles gut gegangen ist. Aber ich lebe. Und weiß genau: ich
will weiter leben. Will kämpfen. Scheiß auf die nachfolgenden Behinderungen –
im Spiel Krebs gegen Hermann steht es 1 : 0 für mich. Das Tor ist ne geile
Kombination des gesamten Teams, welches aus meinen Freunden, dem Operationsteam
und mir besteht. Vollstreckt habe schließlich ich. Man könnte sagen, es ist
eines meiner seltenen Kopfballtore.
Auszug
aus „Ausgehöhlt – Im Krebsstrudel“, veröffentlicht bei
edition PaperONE, Leipzig 2011, zweite Auflage
2015 bei Rodneys Underground Press
vom Autor als Leseprobe zur Veröffentlichung und
Weiterverbreitung freigegeben. Jede weitere Nutzung oder Verbreitung nur nach
schriftlicher Genehmigung des Autors und des Verlags.
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