Ich habe mich
entschieden:
Der Brief ist einfach
zu schön, den will ich Euch nicht vorenthalten.
Die Schreiberin
behauptet von sich, dass sie nicht schreiben kann. Eindeutige Fehleinschätzung!
Ich habe die zu persönlichen Sachen gestrichen und hier nun der Lesungseindruck
eines „Fans“:
„… Jaa, der 2. Mai, 20.00 Uhr, mein 1. Besuch einer Lesung.
Und dann auch noch von dem Mann, dessen Buch „Ausgehöhlt“ mich so sehr in den
Bann gezogen hat! So sehr, dass ich dachte, mir springt das Herz aus der Brust.
Das Buch, dass mich fasziniert hat, mich am Kacken gehalten hat, mich gerettet
hat und mich sprachlos gemacht hat (das will was heißen, ich kann nämlich reden
ohne Luft zu holen – Fisch halt… Böse Zungen behaupten, ich quatsche alle tot,
aber die interessieren mich nicht wirklich, die verstehen nicht, was ich sagen
will).
…
Dann geht’s ab. „Richtung Ruhrstadion“ hat Klaus Märkert
gesagt. Gibt es in der Bastion was zu essen? Während sich die ganzen
Intellektuellen dort unterhalten könnte man sich gut am Essen hochziehen – ist
beschäftigt und die Nervosität fällt nicht so auf…
Dann stehe ich vor der Tür, rauche die 3. Van Nelle Schwarz
(wer weiß, ob man da drinnen rauchen darf) und schelle an.
Eine freundliche junge Frau mit wunderschönem langen Haar
öffnet mir die Tür.
„Hallo“-jetzt gibt es kein Zurück mehr-„ich wollte zur
Buchvorstellung von Hermann Borgerding.“
„OK, komm rein.“ Ich atme durch.
Wir gehen eine rot gestrichene Treppe rauf, die Tür geht
auf… Wow – Heimat – Dschungel um mich herum. Eine kleine Bar, eine kleine
Gruppe Menschen und … da ist er… Ich sehe ihn sofort. Er sieht auf, ich gehe
schnurstracks auf ihn zu, strecke ihm die Hand entgegen und frage blöd: “Du
bist Hermann?“ (Mein Gott, natürlich ist er es!) Er nickt freundlich, lächelt,
gibt mir seine Hand. Ich sage: “Ich bin Andrea, die Nachbarin von Klaus
Märkert.“ Gott sei Dank, er scheint Bescheid zu wissen, sagt, dass es um acht
Uhr losgeht und sonst noch was – ich weiß nicht mehr was. Egal, ich sag „okay“
und dass es mein erster Besuch einer Lesung ist. Er nickt erneut und geht
wieder zu seiner Gruppe zurück – kurz atmen – ich hole mir erst mal ein Wasser,
entdecke die Aschenbecher, man darf hier rauchen – ja, dem Himmel sei Dank!
Ich setze mich hin, erst mal eine drehen, und schaue mich
um. Alles Dschungel an den Wänden – klasse. Aus den Augenwinkeln heraus (ganz
unauffällig, versteht sich) beobachte ich Hermann.
Da steht er nun – ein ganz zarter, dünner Mensch. Ganz
zerbrechlich, gezeichnet von dem scheiß Krebs – und doch irgendwie kraftvoll. Und
seine Augen erst… riesengroße Seen von dichten Wimpern umrandet, fast wie
geschminkt und doch so ungeschminkt und ehrlich – Seele pur…
(Anmerkung: Den Absatz über Claudia habe ich ja schon vor
ein paar Tagen gepostet, den lasse ich hier jetzt mal aus…)
Wir gehen alle nach unten in einen kleinen Raum, sieht aus
wie ein Minikino, eiskalt, aber das macht nix. Mir ist warm. Die Bühne ist in
rotes Licht getaucht – HaHa, Redlight District – lange her – holt einen
irgendwie doch immer wieder ein… und dann tauche ich in die Lesung ein.
Lieder, Gitarrenklänge, Geschichten, Gedichte – der andere
Poet ist auch gut, auch der Gitarrenmensch. Ich höre gut zu und genieße die
Atmosphäre…
Pause – wir gehen wieder hoch.
Ich fühle mich etwas aufgelockert und werde von Claudia
gefragt, ob es mir gefallen hat. Sie ist wirklich lieb und vermittelt mir ein
Gefühl der Sicherheit.
So, es geht wieder weiter. Vorab wieder ein bisschen Musik.
Und dann sagt Hermann, er freue sich besonders, weil heute eine bestimmte
Person gekommen ist. Ich höre so zu und denke, er wird jetzt Ron Hard
ausführlicher vorstellen… Ja, Scheiße! Plötzlich fällt mein Name – ich fühl
mich wie vom Blitz getroffen und ich wünsche mir, der Boden tut sich auf und
ich rein!!! Aber nix dergleichen passiert und ich muss es aushalten!
Und dann sagt er, dass er jetzt ein Gedicht liest, welches
er für Kersten, für mich und Tom Waits geschrieben hat!
Atemstillstand bei mir – Blutdruck 180 – ich beuge mich quer
zu seiner Frau vor und drücke meine Hände auf ihre Schultern – sozusagen als
Zeichen, wie sehr ich mich freue und… weil ich einfach irgendjemanden drücken
muss – sofort.
Und dann liest er und ich sauge jedes Wort in mich auf (ich
erkenne den Text, habe ihn sogar schon zu Hause liegen – in Folie) und lasse
ihn dabei nicht aus den Augen…
Es ist ein sehr langes Gedicht… Glitter and Doom – Tom Waits Konzert in Paris – ich sehe alles – die Seifenblasen, die Gaukler, Tom und Hermann… Wie er in dem dicken roten Samtsessel sitzt und wie die Tränen über sein Gesicht rinnen…
Es ist ein sehr langes Gedicht… Glitter and Doom – Tom Waits Konzert in Paris – ich sehe alles – die Seifenblasen, die Gaukler, Tom und Hermann… Wie er in dem dicken roten Samtsessel sitzt und wie die Tränen über sein Gesicht rinnen…
Mir laufen sie auch übers Gesicht – ich wische sie aber ganz
schnell ab. Sie kommen trotzdem wieder – egal, sie laufen, weil ich genau das
Gleiche empfinde, wenn ich Waits höre, wenn ich Hermanns Buch lese, wenn ich
ihn da so sitzen sehe, lesen höre, glaube ich ganz genau zu wissen, wie der
sich da fühlt.
Ach Scheiße, warum bin ich kein Schriftsteller?
(Anmerkung: Du bist
es, wenn Du willst! Liebe Andrea, dieser Brief zeigt mir, dass Du schreiben
kannst!)
Ich finde einfach nicht die „richtigen“ Worte – nichts ist
gut genug – einfach zu wenig…
Die Wellen, die einen so mitreißen – zu extrem halt – kann
nicht bei einer Sache bleiben – alles überschlägt sich. Aber dafür gibt es ja
Hermann – der kann es, oh ja!
(Anmerkung: Ich werde
beim Abtippen rot. Und stolz. Aber in Wirklichkeit kann ich das auch nicht,
will es irgendwann können, arbeite dran…)
Tja, es folgten noch weitere Gedichte, auch von Ron Hard.
Auch gut, ich werde ihm oben was abkaufen. Erstmal großer Applaus, dann geht es
ganz entspannt und gelöst wieder nach oben.
Hermann bedankt sich doch tatsächlich noch mal bei mir und
ich bin sehr verlegen, weil… ich muss ihm doch danken ohne Ende…
…
Ein super Abend, ehrlich!
In meiner Euphorie bin ich sogar nach Hause gelaufen (wer
mich kennt weiß – ich laufe nur das Allernötigste)! Weiß bis heute nicht, wie
ich es geschafft habe, aber die Hüfte ist noch drin!
Am nächsten Tag habe ich mir erst mal den „Extraball“ zur
Brust genommen. Natürlich erst mal nachsehen, ob „Glitter and Doom“ auch
wirklich da drin steht…
Ich weiß ja nicht, wie Hermann es schafft, aber bei fast all
seinen Erzählungen springen bei mir „Türen“ auf (die ich eigentlich am liebsten
geschlossen halten würde). Diesmal besonders bei den Erinnerungen an seine
Toten…
…
Mein Gott, ist Schreiben anstrengend!
…
So. Und jetzt fühle ich mich irgendwie ganz leicht und werde
mir „Somewhere“ reinziehen. Aus der WestSideStory, aber natürlich die Version
von Tom Waits – und das Ding trägt mich bis zum Ende aller Tage…“
Ein müder alter Mann
an seinem Schreibtisch.
Tippt einen Leserbrief
ab und ist dermaßen stolz, dass er zum Riesen heranwächst.
Gießt sich ein Glas
Wein ein, dreht sich eine Zigarette und weiß wieder, warum und für wen er
diesen Schreiberkram macht.
Und hört niemals auf!
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