Donnerstag, 31. Mai 2012

Mamis Liebling


Mamis Liebling

Er sagte
er wäre Seemann gewesen
dabei war er nur für ein paar Wochen
auf einem Kanalschlepper als Aushilfe
und das waren seine einzigen Wassererfahrungen

Sein Atlantik
war der Rhein-Herne-Kanal
und sein Souvenir eine Tätowierung
billig gestochen
hätte auch im Jugendarrest gemacht sein können

Er lag bei uns im Krankenhaus
und jedem war klar
dass er lebend nicht mehr rauskommen würde
und seine letzten Jahre hatte er in Obdachlosenunterkünften
oder – solange er konnte – auf der Straße verbracht
und jetzt forderte sein Körper den Tribut für dieses Leben
dem war er nicht gewachsen

Erst war sein Bein dran
Stück für Stück ließ er es in der Gefäßchirurgie
und Stück für Stück verlor er seine Hoffnung
aber immerhin:
der Gestank ließ nach
Seine Lunge und seine Bauchspeicheldrüse waren Katastrophen
und inoperabel
und ich fragte mich immer
warum dann überhaupt das Bein amputiert und behandelt werden musste
aber ich war auch nur Pflegeschüler
damit eh der letzte Arsch
und manche Fragen
sollte man in unserem Gesundheitswesen nicht stellen
(schließlich brauchen Ärzte im Praktikum auch OP-Erfahrungen)

Ich war also für seinen Arsch zuständig
den ich oft genug abputzte
und nach einer Woche dann auch für seinen Bart
den ich stutzen durfte
Er wollte auch noch einen Haarschnitt von mir
aber da traute ich mich nicht ran
und den Krankenhausfriseur konnte er nicht zahlen
Aber er war sauber
und bekam dann auch einen Schlafanzug und einen Bademantel
und immerhin regelmäßige Mahlzeiten
und das war schon ne Art Luxus für ihn
auch wenn ihm das Bier und die Zigaretten fehlten

Er machte seine Scherze
und war oft laut und unhöflich
und erzählte von seinen Seefahrten
und wir hörten ihm zu
obwohl wir alle die Akte kannten:
Rhein-Herne-Kanal
Aushilfe
Ich war mir nicht sicher
ob er angeben wollte
oder in seiner erfundenen und übertriebenen Geschichte lebte
und seine letzten Lebensfunken damit am Brennen hielt
auch deshalb hielt ich meine Schnauze

Wie alle anderen auch
fast alle
Einmal sagte er zu einem Doc
„Bei der nächsten Cranger Kirmes stehen wir beide bei Steilmann und saufen uns einen“
Und der Doc antwortete
„Ach, bei der nächsten Cranger Kirmes leben sie nicht mehr…“
Und das war das einzige Mal
dass ich ihn weinen sah
und keine Ahnung hatte
wie seine Tränen zu trocknen gewesen wären

Er war ein Leichtmatrose
und ich konnte ihn alleine in den Rollstuhl heben
Dann ging es zum Raucherzimmer (die gab es damals noch)
und ich drehte ihm und mir eine Zigarette
und ließ ihn dort eine viertel Stunde stehen
so dass er sich noch eine Kippe von irgendeinen Mitpatienten schnorren konnte
Von der Stationsschwester bekam ich dafür einen derben Anschiss
aber das war mir egal
und ich wurde das Gefühl nicht los
dass sie mich insgeheim sogar verstand
Von weiteren Disziplinarmaßnahmen wurde abgesehen

Seine Tätowierung
sahen wir bei der Körperpflege und Wäsche
auf der eingefallenen Bauchdecke
Ein mittlerweile eingefallenes Herz
darunter ein Anker
und ein Pfeil als Wegweiser
der zu seinem Schwanz zeigte
mit dem Hinweis
Mamis Liebling

Na ja
da gab es schon lange keine Mami mehr
es gab für ihn gar keinen Besuch
und der Liebling war klein und verschrumpelt
mit einem Katheterschlauch in der Harnröhre
und die Krankenschwestern reagierten
empört, belustigt oder mitleidig
und ich grinste mir einen

Sein Tod war nicht witzig
genau wie sein Leben
Multiorganversagen
und höllische Schmerzen
Natürlich wollte er ein Seebegräbnis
aber der Leichtmatrose des Rhein-Herne-Kanals
wurde dann irgendwie vom Amt entsorgt

Ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern
für mich bleibt er Mamis Liebling
und diesen Text setze ich als seinen Grabstein
er hat ja sonst keinen

Vielleicht verarscht ihn ein mögliches Leben nach dem Tod weniger
Ich würde es ihm gönnen

1 Kommentar:

  1. Hallo Hermann.
    Mamis Liebling hat mein Herz berührt!Tüss,Deine ehmalige Nachbarin,Kollegin und dies und das.
    Susi

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