Samstag, 19. Mai 2012

Glitter and Doom


Glitter and Doom

(- Für die an Krebs erkrankte Frau, die mir die Tom Waits CD schenkte,
weil sie von meinem Roman angetan war: Danke!
- Für Kersten!
- Er wird es nie mitbekommen, trotzdem für Tom Waits.)


Es war Juli 2008
Tom Waits gab eines seiner seltenen Europa-Konzerte
im wunderbaren Grand Rex in Paris
und uns war es scheißegal
ob wir uns das leisten konnten
und ich besorgte die Karten und Kersten den Leihwagen und das Hotelzimmer
und so fuhren wir entgegen jeder Vernunft
in eine meiner Lieblingsstädte
um Tom endlich live zu genießen

Meine Krebsoperation war anderthalb Jahre her
ich hatte keine Zähne mehr im Mund
wog gerade fünfzig Kilo
aber ich hatte überlebt
und konnte von Tag zu Tag optimistischer sein
und von Überleben und Weiterleben und Leben sprechen
und das war ein Jahr zuvor eher unwahrscheinlich
also hatte ich zumindest einen Grund zu feiern

Direkt nach der OP hatte ich geschrieben
dass ich vor meinem Abgang meinen Roman fertigstellen
und ein Tom Waits Konzert live erleben wollte
Ich hatte schon einen Baum gepflanzt
- soweit ich wusste noch kein Kind gezeugt
aber das wollte ich auch nicht mehr
die Verantwortung konnte ich unmöglich übernehmen –
und ein Haus bauen fand ich immer doof
am Roman war ich dran
also blieb mir persönlich noch Tom Waits
Und zehntausend weitere Lebensziele

Anyway
Ich musste nur kurz überlegen
und fand mit Kersten einen Geistesbruder und Freund
der meinen Wahnsinn teilte
und merkwürdigerweise verstanden mich sogar die meisten anderen Freunde
bei dieser Wahnsinnsaktion
wenn auch die wenigsten Tom Waits mochten
- der ist schon speziell… -
und Ende Juli fuhren wir dann wahrhaftig los

Ich würde jetzt gerne mehr über die Fahrt
über Paris
über das wunderbare Grand Rex
und das wirklich tolle Konzert schreiben
aber all das ist im Nebel meiner Erinnerungen
unter dem Kapitel Überlebenskampf
versteckt
Ich komme da nur teilweise dran
Kersten und ich besuchten das Grab von Heinrich Heine
am Mont Matre,
das weiß ich noch
Wir trafen Karen eher zufällig in Paris
die gerade mit ihrem Freund einen Spanienurlaub beendete,
ich kann mich knapp erinnern
und Kersten schrieb einen Artikel über Tom Waits und Paris
aber ich weiß nicht mehr
für welche Zeitung und ob er veröffentlicht wurde
Ich glaube der Mietwagen war ein Fiat Panda
und der war gar nicht so übel
Und vom Hotel
kann ich mich nur noch an den kleinen Balkon
und meine Zigaretten erinnern
Ich glaube
wir hatten schönes Wetter

Das Grand Rex war ein wunderschönes altes Kino
und wir saßen auf unseren Logenplätzen
im samtenen Rot
und dann ging das Licht aus und der Spot an
und ein Magier betrat die Bühne
die wie ein alter Jahrmarkt hergerichtet war
und Tom war der Marktschreier
der Gaukler, der Geschichtenerzähler
und der Bänkelsänger
Mit Lucinda und Raindogs brachte er uns zum rocken
mit seinen Balladen ließ er uns schweben
und während er am Piano saß erzählte er kleine Anekdoten
die alle schmunzeln ließen
Gänsehäute bei Tom Traubert’s Blues und Innocent when you dream
das wir alle mehr schlecht als recht mitsangen

Meine Englischkenntnisse sind eingeschlafen
und waren noch nie die besten
aber Toms Amerikanisch ist leicht zu verstehen
und wahre Poesie kann Sprachbarrieren überwinden
und ich saß gebannt auf meinem Kinosessel
und unterdrückte ab und zu meine Tränen
und lebte

Wie kann ich die Stimme beschreiben
die meine Seele streichelte?
Wie kann ich die Ausstrahlung dieses kleinen Mannes
mit seiner großen Kunst wiedergeben?
Toms Stimme knarzte sich durch das Konzert
tiefes Bärengrummeln und manchmal
hatte ich beim Zuhören das Gefühl
eine selbstgedrehte Schwarze zu rauchen
und dabei einen alten Whiskey zu trinken
und auf einem gemütlichen Ohrensessel hinwegzugleiten
(Was komisch ist: ich trinke keinen Whiskey und rauche lieber Halfzware)

Zwei bis drei Stunden lang
vergaß ich meinen Krebs, meine Geldsorgen und meine Einsamkeit
die drohende Gosse erschien romantisch
und trotzig riefen wir mit Tom
Make it rain!
und fanden unser wahres Zuhause in der Musik
in einem Filmtheater in Paris
eben
Anywhere I lay my head

Ich habe einen Baum gepflanzt
Ich scheiße aufs Haus bauen
und ich habe hoffentlich und wahrscheinlich kein Kind gezeugt
Ich habe Bücher geschrieben
bin verheiratet
und ich habe Tom Waits live gesehen

Viele Helden durfte ich erleben
Keith Richards, Neil Young, Patti Smith, Rio Reiser, Herman Brood,
Justin Sullivan und New Model Army, Udo Lindenberg, Midnight Oil,
Depeche Mode, Die Toten Hosen, Die Ärzte, Green Day, U2, Robbie Williams,
Lou Reed, John Cale, immer wieder Peter Gabriel
und so viele weitere
Rock’n’Roll !!!
Ich habe Iggy Pop an der Schulter berührt
Wim Wenders hat mir mal bei nem Eels-Konzert auf den Fuß getreten
und ich bin mittlerweile mit der einzigartigen Claudia verheiratet
Eigentlich habe ich alles
was man im Leben erreichen sollte
Okay: mir fehlen noch Pearl Jam und die Foo Fighters
aber ich finde
Ziele sollte man immer haben

Was ich sagen und schreiben will
habe ich vergessen
Ich habe mich verzettelt
ich wiederhole: postkarzinome Demenz

Ach ja: Tom Waits

Klaus Märkert
(ein geiler Schreiber und mittlerweile Freund)
kam bei mir vorbei und brachte mir die Glitter and Doom - CD von Waits:
„Ein Geschenk meiner Nachbarin
ich habe der dein Buch geliehen
und die hat selber Krebs
und aus dem Buch auch Stärke und Lebensfreude gezogen
und weil sie den gleichen Musikgeschmack hat
wie du
möchte sie dir die CD schenken
Momentan muss sie eine Chemotherapie durchziehen
und so bedankt sie sich
für die Stärke
die dein Buch vermittelt hat“

Und ich wachse ins Unermessliche
(wie der Scheinriese bei Jim Knopf)
und bin stolz und freue mich und 
weiß wieder
warum ich schreibe

Mein Tom Waits Konzert
ist mittlerweile vier Jahre her
und ich lebe nicht nur weiterhin
sondern ich kämpfe
und liebe
und genieße das Leben
trotz meiner bescheuerten Behinderungen
die der Krebs ausgelöst hat
Ich sehe wie Gollum aus
aber meine Frau nennt mich
Blauauge und Babybär
und Magermops
und Schatzi
und dann ist das Leben einfach wunderbar

Was soll ich schreiben
Was soll ich sagen?
Dieses grässliche, wunderschöne, einzigartige und unerträgliche Leben
ist das Leben
das wir haben
und wir sollten das Beste daraus machen
auch wenn gerade das unsagbar schwer sein kann
Vielleicht ist es das
was ich immer wieder sagen und schreiben will

Zum Beispiel sitze ich jetzt am Schreibtisch
und höre die Soulsavers mit Dave Gahan
die erste Platte
die Dave nach seiner Krebserkrankung gemacht hat
und die ich mir sofort besorgen musste
Die Musik haut mich um
die Texte und der Gesang hauen mich um
und ich denke an die Nachbarin von Klaus
die ich hoffentlich mal kennenlerne
und mit der ich mich dann unterhalten werde
über Tom Waits, über das Leben
und auch - aber eben nicht nur - über unsere Krebserfahrungen

Ich denke an Kersten und an Tom Waits
und an meine Bekannte
die gerade aus dem Krankenhaus nach zwei Brust-OPs kam
und nun den Horror der Chemo und Bestrahlung vor sich hat
Ich denke an Judith
und wie wir bei Karen am Küchentisch saßen
und sie mir Hoffnung geben wollte
und voller eigener Pläne war
und es nicht geschafft hat
und – ach, Scheiße! –
Ich denke an Gerda und an den letzten Abend
wo ich sie nach einer Feier bei meiner Schwester nach Hause gefahren habe
und wir beide dachten
dass wir das Schlimmste hinter uns haben
und Gerda war voller Pläne und
so verarscht einen nur das Leben
und Gerda wird in meiner Erinnerung immer weiter leben

Ich schweife schon wieder ab
Kersten und Tom Waits
die Straßen und Cafes
und Friedhöfe
von Paris
Glitter and Doom
Manchmal
muss man unvernünftige Sachen machen
um das Leben in all seinen Zügen zu genießen

Du kannst den Frühling nicht aufhalten
und auch wenn der sich diese Jahr bisher eher mau präsentiert
er kommt
genau wie der Sommer
und der Herbst und der Winter
Bis zum Untergang dauert es noch ein bisschen
und deshalb sollten wir uns auch weiterhin Unvernunft,
Zuversicht und Lebenslust gönnen
auch wenn es schwer fällt

Wie kann ich dieses Gedicht beenden?
Mit einem Zug an der Zigarette
dabei stelle ich mir den kritischen Blick von Kersten vor
und die ermahnenden Kommentare meiner geliebten Frau
Ich beende es dann doch lieber
mit Seifenblasen, mit Glitzerkram und mit Purzelbäumen
die ich zwar nur noch in meiner Fantasie hinkriege
aber trotzdem täglich schlage

Und natürlich mit Waits:
You are innocent
when you dream
Und dieses Lied wird mich durch die Woche führen

Ich lege es Euch zu Füßen


2 Kommentare:

  1. LästerSchwester20. Mai 2012 um 09:18

    Lieber Hermann,
    ich bin wirklich beeindruckt von deinem Mut!
    Ich habe mich eben auf das Konzert geträumt (auch wenn wir einen unterschiedlichen Musikgeschmack haben).
    Alles Liebe,
    L.S.

    AntwortenLöschen