Mittwoch, 18. Januar 2017

Ne Art Fazit nach zehn Jahren Krebs:



Heute vor zehn Jahren begann ich ein neues Leben.



Nicht unbedingt freiwillig, mit Sicherheit nicht so gewollt, wurde mein altes Programm getilt und ich drückte den Neustartknopf und flippere seitdem ein anderes Spiel. Mit meinem ganz persönlichen ExtraBall.



Unter Dormicum-Einfluss wurde ich wohlgelaunt in einen OP-Saal geschoben, nach 17 Stunden schob man mich dann auf die Intensiv-Station und nach zwei oder drei Tagen erwachte ich so langsam wieder. Es soll sehr blutig zugegangen sein sagte man mir später. Das gefiel mir. Es passte schon.

An Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern, will ich mich momentan auch nicht erinnern. Auch, wenn der heutige Jahrestag natürlich ganz viel hochspült.

Mein neues Leben war eine schwierige Geburt und ein äußerst schmerzhaftes erstes Jahr, in dem ich einfach nur überleben wollte.

Und das auch schließlich schaffte. Bis heute. Und ganz bestimmt noch einige Tage länger.



Mein erstes Leben war bis zum 33ten Lebensjahr chaotisch. Dann begann ich, mich als Krankenpfleger ausbilden zu lassen und mich in dem Job zu etablieren.

Im letzten Jahr vor meinem Krebs schien ich alles erreicht zu haben:

Ich hatte einen hohen Stellenwert im Job, steckte viel zusätzliche Zeit in die Ausbildung der KrankenpflegeschülerInnen, engagierte mich in der Mitarbeitervertretung und war beruflich zufrieden.

Ich hatte eine luxuriöse Dachwohnung mit offenem Kamin in Wanne-Eickel, fuhr einen zwar alten aber geilen 190er E Benz, bespielte meine drei Gitarren und hatte wieder angefangen, zu schreiben. Mit 44 Jahren schien ich irgendwie angekommen zu sein.

Aber ich war auch auf dem Weg, mich zu einem arroganten Arsch zu entwickeln und lebte größtenteils für mich alleine.

Im letzten halben Jahr vor dem Krebs machte sich dieser dann auch schon bemerkbar. Ich verlor an Gewicht (was ich nicht schlimm fand), war dauernd müde und schlapp und schaffte die Arbeit gerade noch so eben.

Im Nachhinein war da der Krebs ein Cut, der in einigen Bereichen gar nicht so doof war.



Nach der Kreps-OP erwachte ich als Krüppel.

Ich hatte noch keine Ahnung, was da alles auf mich zukam, aber ich wollte leben und kämpfen.

Und ich entdeckte, wie wichtig meine FreundInnen und meine Familie waren.

Und die waren immer für mich da und halfen mir, nicht nur zu überleben, sondern trotz all der Scheiße einen Sinn und Schönheiten im Leben zu sehen.



Es ist besonders schwer, wenn man erst in der Mitte des Lebens zum Krüppel wird. Ich versuchte mehrmals den Wiedereinstieg ins Arbeitsleben, das war mir körperlich und vor allem artikulatorisch nicht mehr möglich.
Vieles wurde einfacher, als ich das zu akzeptieren lernte.

Es ist schwer, wenn man in der Öffentlichkeit als Krüppel wahrgenommen wird.
Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich darauf scheiße.
Es tut immer noch weh, vor allem, wenn mich Kinder neugierig und zögernd angucken oder wenn Teenies sich dumme Witze über mich erlauben.
Aber meistens stehe ich da drüber.

Meine Lebenserwartung ist seit dem Krebs immer von einem Tag auf den anderen.
Das ist so, bei einem aggressiven Krebs, der eben nicht nach fünf Jahren geheilt ist und jederzeit neu ausbrechen kann.
Ich habe es geschafft, mich auch damit abzufinden und mache jetzt sogar wieder Pläne für die (nahe) Zukunft. Seit zehn Jahren lasse ich mich nicht vom Krebs verarschen, sondern verarsche ihn und seine Statistiken.

Wer weiß, vielleicht nochmal zehn Jahre lang. Und dann nochmal zehn.
Solange, wie es eben geht...



In meinem neuen Leben habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt.
Kommuniziere über Facebook, blogge und veröffentliche meinen Kram.
Ab und zu mache ich Lesungen, das sind dann Highlights für mich.



Ich atme die Poesie und die Musik. Ich singe und tanze in mir.

Und:
Ich habe die Liebe meines Lebens kennengelernt und geheiratet!
Ich lebe mit ihr auf dem Dorf im tiefsten Münsterland und genieße meistens.



Mein neues Leben ist oft wunderbar und schön. Vor allem wegen Claudia.

Wir leben finanziell oft prekär, ihre Mutter kostet uns (vor allem ihr) wahnsinnig viel Kraft und Nerven aber es ist schön hier und trotz Krankheiten und der Weltlage und überhaupt: Wir haben unseren Frieden und (meistenteils) Ruhe gefunden.



Es gab drei ganz schlimme Jahre:

2007 - Schmerzen und das neue Leben als Krüppel. Manchmal war ich dem Suizid nahe. Meine FreundInnen schenkten mir Kraft.

2013 – Eine Reha und eine dämliche Darm-OP warfen mich gesundheitlich um, Claudia steckte in einer tiefen Depression. Wir schafften auch das.

2016 – Dieses Arschlochjahr, das mich schon zu Beginn fickte und mir mein Gebiss klaute. Und mir letztendlich jede Aussicht auf einen neuen Kiefer nahm.
Im letzten Jahr verkroch ich mich in immer tiefere Depressionen, aus denen ich jetzt auftauche. Die Weltlage, die Politik und der Verlust vieler meiner Helden war da nur der Tropfen, der das Fass beinahe überlaufen ließ.



So merkwürdig das klingen mag, seitdem ich akzeptiert habe, dass ich nie wieder kauen oder relativ klar sprechen werde, immer sabbernd durch das Leben marschiere und äußerlich Gollum ähnele geht es mir besser.

Ich tauche aus dem Loch auf, wir planen einen Urlaub und leben meist harmonisch in zwei Generationen mit unserem Hund Aron zusammen.

Mindestens zwei Veröffentlichungen von mir kommen (ziemlich bald schon) im ersten Quartal des Jahres und ich habe den Kopf voller Ideen und Pläne.

Wir werden sehen.

Und:

Ich bin wieder gespannt und neugierig – auf alles, was da noch kommt!



Mein Fazit:

Seitdem ich Krebs habe (und diesen Krebs werde ich mein Leben lang nicht mehr los, auch ohne Rezidiv – eigentlich wird man gar keinen Krebs jemals wieder los…) lebe ich intensiver.

Scheiß auf chronische Schmerzen und allem Negativen: Das Leben als solches ist die Hölle, aber in der Hölle kann es gemütlich warm und spannend sein.

Das Leben als solches ist der Himmel. Aber den kann man nur richtig genießen, wenn man auch die Schattenseiten kennt. Und die kenne ich.



Leben ohne Liebe ist Bullshit, geht aber.
Sicherheit ohne Freiheit ist für n Arsch. Und geht gar nicht.
Einfach mal auf all den Mist scheißen wirkt befreiend.
Bitte abputzen, bis das letzte Blatt sauber ist!



Ich weiß, dass ich ähnliche Sätze und die Geschichte meiner Krebskacke schon öfters gepostet habe.
Heute muss das. Ich habe eh nix anderes im Kopf.

Außerdem:

Würde ich die heutigen Nachrichten kommentieren, dann würde das wesentlich pessimistischer und böser werden.





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