Montag, 16. April 2012

Ich liebe sie (again...)


Ein Klassiker.
Ich glaube, ich habe dieses Gedicht auch schon in meinem damaligen YouTube-Blog gehabt. Aber ich habe viele neue LeserInnen. Und da ich mich seit kurzem auch mit einer engagierten Pflegeaktivisten-Gruppe verlinkt habe dachte ich mir, es wäre Zeit, dieses Gedicht erneut zu posten. Sorry, wenn Ihr es schon kennt (es ist auch in meinem Gedichtsband „Mein Mittelfinger dem Krebs“).
Das einzige Liebesgedicht, bei dem meine Frau nicht eifersüchtig wird, obwohl es nicht über sie ist:



Ich liebe sie

Ihre Augen sind voller Leben und strahlen
mich an
Wenn sie lacht dann steckt das an
und wenn sie weint
kannst du gar nicht anders als sie zu trösten
97 Jahre ist ne hohe Hausnummer
und seit drei Jahren hat sie ihr Bett nicht mehr verlassen
aber wenn ich ihr Zimmer betrete grinst sie mich an
- Da bist du ja. Ich habe schon so lange gewartet
Ich begrüße sie und
manchmal erkennt sie mich sogar
und nennt mich bei meinem Namen
Dann fangen wir auch schon an
zu streiten
- Immer diese Trinkerei – ich bin doch kein Brauereipferd
- Die Emmie hat mich gerade gewaschen
- Tu mir nicht weh
- Ich spuck dir das Essen auf dem Teller
- Tu mir nicht weh
- Scheiß eincremen – lass das sein
Und so weiter
Zwischendurch singt sie
fragt mich nach meiner Frau (Kollegin), meinen Töchtern (Schülerinnen) und
ihrer Mutter und ihrem Mann
Man sagte mir, sie sei dement und völlig neben der Spur aber
so ganz stimmt das nicht:
sie mag mich, nennt mich ihren Liebling und
das ist für mich Beweis genug
dass sie völlig klar im Kopf ist
Sie lebt halt in ihrer eigenen Welt
irgendwo tun wir das doch alle und
sie hat es sich verdient und darf das

Sie kann tierisch nerven
und ist zickig und manchmal ganz schön arschig
und wenn ich ihr das Essen anreiche ist das Folter
- für mich – weil es viel zu lange dauert
und ich doch noch weiter muss
dann fragt sie
- Hast du schon gegessen? Ich hole uns Kuchen
und meistens ist dann auch schon wieder alles okay
Ihre Haut ist wie Pergament
und reißt sehr schnell ein, ihre chronischen Wunden lassen uns verzweifeln
und jede Bewegung schmerzt
aber dann kommt wieder so ein trockener Satz von ihr
und spätestens wenn ich gehen will verlangt sie ein Küsschen und
wenn ich dann gehe
weiß ich wieder
warum ich diesen Job mache



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