Sonntag, 5. Februar 2012

Arschgeigentherapie


Arschgeigentherapie

„Du Arschgeige!“,
sagte er zu mir. Seine Mundwinkel verzogen sich ganz leicht, fast unbemerkbar, nach oben. Seine Augen waren weit geöffnet und er blickte direkt in meine.
So wie bei einem Duell, wenn sich die Cowboys gegenüber stehen. Oder wie in einem Liebesfilm, wenn Mann und Frau sich tief in die Augen gucken, ihre Münder sich nähern, die Geigen einsetzen und du auf deinem Kinosessel etwas nach unten rutscht, obwohl du genau weißt, dass im nächsten Moment abgeblendet wird. Schnitt, Szenenwechsel.

Wir blickten uns tief in die Augen.
„Endlich haben Sie mich erkannt. Klasse! Wissen Sie noch? …!“
und dann versuchte ich so klar,  wie ich irgendwie konnte,  meine Erwiderung zu bringen:
„Sackgesicht!“
Er umfasste meine rechte Hand fester. Drückte zu.
Endlich drückte er feste zu und zeigte mir seine Kraft, diese Kraft, die mich vor ca. 3 Jahren so oft zum Schwitzen gebracht hatte und alle meine Kräfte mobilisierte, da er den Pflegevorgang oft als Kraftspiel und Machtkampf zwischen uns beiden betrachtete und nur in dieser Form so richtig genoss.

Seine Frau steckte sich eine Zigarette an.
„Wollen Sie auch eine, Herr Hermann?“
Scheiße. Gerade bei dieser Familie hatte ich einiges erreicht, aber dieses idiotische „Herr“ in Kombination mit meinem Vornamen kriegte ich bei ihnen wie bei vielen Menschen einfach nicht raus.
Ich nickte.
„Herr D. Ich komme gleich wieder zu Ihnen. Jetzt muss ich erstmal mit ihrer Frau flirten.“
Sie lachte. Stellte mir die Zigaretten, einen Aschenbecher und ungefragt einen Pott Kaffee hin.
Wie oft hatte ich diesen Kaffee damals verflucht. Im Räderwerk der ambulanten Pflege, der nächste Patient schon wartend, aber immer dieser obligatorische Kaffee. Und der war dann Beginn des zweiten Pflegeeinsatzes im Haushalt. Die Angehörigenbetreuung, das Zuhören, wenn nötig Ratschläge geben oder neue Maßnahmen mit der Ehefrau besprechen. Ein Einsatz, den ich nicht dokumentieren konnte, noch schlimmer: ein Einsatz, den ich nicht abrechnen konnte. Aber auch ein Einsatz, der genauso wichtig war, wie die tägliche Körperpflege des Ehemannes.
Jetzt hatte ich Zeit. Und konnte endlich den Kaffee genießen.

„Ach Hermann. Letzte Woche kam kein einziges klares Wort aus seinem Mund. Und ausgerechnet das erste zu verstehende Wort heute ist eine Beschimpfung.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Frau D. Aus dem Mund ihres Mannes ist das ein Kompliment. Und ich freue mich darüber. Wissen Sie noch, wie ich vor drei Jahren die ersten Male bei ihnen auftauchte?“

Hirninfarkt. Rechtsseitige Lähmung. Sprachstörungen.
Stell Dir nur mal vor: Plötzlich liegst du im Bett, kippst um, beim Versuch das Bett zu verlassen, wirst von allen möglichen und unmöglichen Leuten angepackt. Verstehst gar nichts mehr. Hast Angst. Bist wütend. Möchtest zur Toilette, kannst nicht. Deine Frau kommt mit einer Urinflasche, nichts geht. Du merkst nichts, liegst aber im nächsten Moment in deinen Ausscheidungen. Deine Frau kommt, schimpft mit dir. Sie ist überfordert. Du willst sie nicht überfordern. In manchen Momenten möchtest du einfach nicht mehr da sein. Du denkst, dass das die klaren Momente sind. Der Pfleger kommt. Du willst nicht gepflegt werden. Macht doch alles keinen Sinn! Du willst schlafen. Du willst, dass deine Frau sich beruhigt. Okay. Also lässt du dich halt waschen.

In dieser Situation tauchte ich zum ersten Mal bei der Familie auf. Ich wurde begrüßt mit einem
„Ey Olle! Kannst auch „Olle“ zu mir sagen! Wehe, Du kommst mit kaltem Wasser! Ich hau Dich um!“
Ich musste grinsen. Solche Menschen waren mir bei meiner Arbeit am liebsten.
„Kraul mir da unten nicht so rum! Deine Schülerin guckt zu!“
Aus dem Nebenzimmer die Ehefrau:
„Die kann gar nix sehen, die hat keine Lupe dabei!“
Und ich konnte mein Grinsen nicht zurückhalten.

Die Zeit heilt nicht alle Wunden, manchmal reißt sie auch neue auf. Und Krankheiten sind einfach nur Mist. Und können heimtückisch sein:
Herr D. erholte sich zusehends. Konnte in den Sessel mobilisiert werden. Bekam einen Rollstuhl und später einen elektrischen Rollstuhl, mit dem seine Frau und er nahezu selbstständig klarkamen. Die Pflege wurde immer einfacher und leichter, da wurde ich nicht mehr benötigt.
Später wurde ich dann selber krank.
Und Herr D. ließ sich erneut ins Hirn schlagen.
Er lag jetzt völlig platt. Konnte nicht mehr viel sprechen, nicht mehr schlucken, nicht mehr aus dem Bett raus.
SPF – PEG – leider keine Schlachtgesänge, keine Vereinskürzel sondern medizinischer Scheiß, der das Überleben sichert.

Ich tauchte nach Jahren abgemagert und kieferlos während meiner Genesung im Rahmen meiner Weiterbildung dann wieder  bei ihm auf.
Wurde von der Frau umarmt und von Herrn D. kaum wahrgenommen.

Hand halten kann Therapie sein. Hand halten, Motivationsversuche, Stimulierungen, einfach nur da sein. Für die Pflege waren nun meine ehemaligen KollegInnen zuständig.
Ich beschimpfte ihn nicht mehr: ohne seine Beschimpfungen war das zu einseitig. Unsere Duelle hatte er nun gewonnen: sprachloses Leiden ist unschlagbar.

Ich trank einen Schluck Kaffee, wischte mir den Mund ab.
„Der Logopäde kommt nicht mehr. Sagt, es wäre sinnlos bei meinem Mann. Und der Arzt will die Krankengymnastik nicht mehr verschreiben.
Was meinen Sie? Manchmal denke ich, es macht alles keinen Sinn und dann hoffe ich, dass es nur schnell gehen soll.“
„Das können wir doch nicht beurteilen! Gucken Sie in das Gesicht ihres Mannes und sie merken, dass es ihm auch noch gut geht und er sehr viel mitbekommt. Und ich bin mir sicher, bei Ihnen geht es ihm so gut wie irgend möglich!“

Ich ging wieder zu dem Pflegebett, fasste seine Schulter. Die Augen öffneten sich wieder.
„Na, Olle“,
flüsterte ich mit einem Kloß im Hals.
Ich nahm mir einen Hocker, verzichtete auf weitere Tätigkeiten, außer meiner Hand an seiner Schulter.
Seine Augen fielen in der Zwischenzeit immer wieder zu, sein Atem war unregelmäßig und leicht brodelnd. Ab und zu hustete er.
Nach zehn Minuten verabschiedete ich mich. Herr D. versuchte zu antworten, ich bildete mir ein, ein
„Komm bald wieder“
zu hören. Dann ein leichtes Husten und noch mal, laut, klar und deutlich:
„Du Arschgeige!“

Diesen Tag wurde ich mein Grinsen nicht mehr los. Ich war verwirrt: eigentlich sollte ich sein Therapeut sein.
Er hatte mal wieder die Rollen umgedreht.

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