Sonntag, 30. August 2015

Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben 2015





Manche Gedichte werden mich wohl mein Leben lang begleiten. Das ist ähnlich wie bei Wecker und seinem grandiosen „Willy“.
Ich schrieb dieses Gedicht 1993, 1998 änderte ich Kleinigkeiten und veröffentlichte es in „Seifenblasen im Schädel“. 2008 erschien es dann in der Anthologie „Grind the Nazi Scum“. Jetzt haben wir Ende 2015 und zwischenzeitlich gab es den NSU-Skandal und weitere Morde und Straftaten. Und diesen Sommer ist es besonders schlimm. Ich werde es aktualisieren (die Liste der Orte des Grauens wird länger…) und poste es jetzt schon mal:


Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben



Ich hab noch immer keinen Bock über Faschismus zu schreiben

Nazis:

Ich will sie gar nicht wahrnehmen

und wenn

dann will ich sie eigentlich nur auslachen



Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben

Die Sonne durchbricht die Wolken

ein klarer Himmel taucht auf

Mein Kontostand ermöglicht mir eine Auszahlung und einen

dicken Einkauf

Die Verkäuferin an der Käsetheke grinse ich an

sie grinst zurück

und an der Kasse wünsche ich der Kassiererin

einen schönen Tag

und sie strahlt mich an:

“Sie sind heute der erste Kunde

der mich persönlich wahrnimmt”



Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben

In meinem Auto

der frisch gemahlenen Kaffee - sein Duft lässt mich schweben

nein, das ist kein billiger Werbesatz - das ist so

Und wieder zu Hause

schmeiße ich erst mal einen an

und grinse mir einen

während ich zu Doors-Melodien rumhüpfe

und meine Bude in Ordnung bringe…



Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben

Ich koche eine chinesische Reispfanne

und während des Anbratens

lese ich die Tageszeitung

und habe immer noch keinerlei Bock über Faschismus zu schreiben



Ich hab keinen Bock über

Faschismus, Rassismus, Sexismus, Stammtischpolitik,

Volkesstimme,

Deutschland, Italien, Frankreich, USA, China, Russland, Ungarn, Somalia, Libyen, Syrien, Afghanistan, Iran, Irak, Palästina, Nigeria,

Solingen, Mölln, Dresden, Rostock, Leipzig, Jena, Zwickau,

Dortmund-Dorstfeld, Bochum, Bad Kleinen,

Stuttgart Stammheim

zu schreiben

Ich denke an ihre Brüste, ihren Arsch, ihr Zwinkern,

Ich denke an ihre Augen, die mich angrinsen,

selbst beim Erwachen

das ist schöner




Scheiße

ich hab jetzt keinen Bock über Faschismus zu schreiben

aber

brennende Menschen

grölende Horden

Wut über Asylverhinderung und Abschiebung, was nichts anderes besagt als

Deutschland den Deutschen

und das Grundgesetz ein Scherz und

polizeiliche Übergriffe an der Tagesordnung und

eine Bundeswehr mit braunen Dreck an Springerstiefeln und

braune Modeläden in Rostock und anderswo und

Aufmärsche in Dortmund von der Polizei gesichert und

die mordenden Neonazis

natürlich alle Einzeltäter

und aus Dreizelgängern werden in Stunden Achtelgänger und dann

gibt es doch Verbündete und Netzwerke und plötzlich

taucht das unaussprechliche Wort auf:

Rechtsterrorismus (NSU 2011)

den es ja eigentlich offiziell gar nicht geben soll



Ich hab keinen Bock über Neonazis zu schreiben

Der Verfassungsschutz

schützt Nazis und V-Leute

bespitzeln sich gegenseitig

und ich bin gegen ein NPD-Verbot:

Verbote haben wir schon mehr als genug

was uns fehlt

ist ein Klima der Menschlichkeit

dann bräuchte man diese Hohlköpfe nicht verbieten,

sie würden irgendwann von selber in der Bedeutungslosigkeit verschwinden

da bin ich sicher



Antifaschisten leben hier und heute mit der ständigen Angst

vor Schlägen, Anschlägen und mehr

und jetzt (2015) brennen Autos und Scheunen und

Menschen mit Migrationshintergrund

(manchmal braucht es fürchterliche Worte)

meiden U-Bahnen oder betreten sie nur in Gruppen

Sogenannte No-Go-Areas

gibt es bald öfters als Fußgängerzonen



Faschismus und Neonazis hier in Deutschland

Jetzt

Nicht vor 80 Jahren



Damals wurden erst die Bücher

und dann die Menschen verbrannt

Heute läuft das raffinierter

und brennende Menschen

sind eher noch Schönheitsfehler vorschneller Aktivisten



Scheiße

Ich weiß kein Asylland für uns



Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben

würde Nazis viel lieber ignorieren

In Halberstadt verprügelten sie Schauspieler

einfach weil die anders aussahen

Die Polizei guckte weg

Zwei Freisprüche gab es für Aussageverweigerer

und nur einen Schuldspruch – ein politischer Hintergrund wurde ausgeschlossen

und die Morde an den ausländischen Mitbürgern

wurden in den letzten zehn Jahren auf die Mafia oder

Stammesfehden oder die bekannten Einzeltäter geschoben

bis die NSU auftauchte

und den Verfassungsschmutz entlarvte

und plötzlich landesweite Empörung regiert

Alleine der Begriff Döner-Morde

zeigt mir

in welch dunklen Zeiten ich lebe



Aber ich möchte ja gar nicht über Faschismus schreiben

Wenn ich ihn nicht täglich spüren würde

wären die Sternschnuppen dieser Nacht

ein viel schöneres Thema



Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben

Ich habe keinen Bock über Krankheit, Geldsorgen, Krieg und Politik

zu schreiben

Ich habe keinen Bock über Demokratie zu schreiben

es gibt genug gute Märchenbücher

und mittlerweile wird auch dem letzten Gutgläubigen klar

dass nur der Finanzmarkt die Macht hat





Ich habe keinen Bock

auf solche Gedichte

aber diese Themen hetzen mich durch den Tag

und dieses Gedicht wird

immer unpoetischer

weil wütender



Ich habe Bock über meine Frau und unsere Liebe zu schreiben

ich habe Bock

die Musik und den Rhythmus im Herzen zu beschreiben

Unser Hund oder die Reiher auf dem Dorfteich in Hiltrop

die gewaltigen Bäume im Park

- in ihren Rinden entdecke ich eingekratzte Hakenkreuze



Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben

vielleicht ist das ja wirklich

irgendwann nicht mehr nötig



Dann verspreche ich euch Liebeslieder

die

schreibe ich jetzt schon viel lieber

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