Dienstag, 25. Oktober 2011

Wo mein Herz ist

Wo mein Herz ist:

Du triffst sie morgens am Kiosk
mit zittrigen Fingern bestellen sie sich
ihren Frühstücksflachmann oder ihr Guten-Morgen-Bier
um dann Berufen nachzugehen
die nicht Berufung sondern Knochenmühle bedeuten
oder wenigstens so zu tun
damit die Nachbarn oder die Familie nichts von der Arbeitslosigkeit merken

Oder du triffst sie auf den kalten Fluren der Ämter
wo sie warten
um dann unterwürfig unwürdige Fragen zu beantworten
und sinnlose Maßnahmen oder billige Jobs zu bekommen
oder mit hartzigen Almosen weggeschickt werden

Du triffst sie in den Alters- und Pflegeheimen
den Wartezimmern zum Tod
wo sie die Abreibungen
der Wasch- und Fütterhandlanger über sich ergehen lassen müssen
und das innere Frieren sich nach außen überträgt
und leider ist dies nicht nur Übertreibung

Du triffst sie in den FußgängerZONEN
in den Ein-Euro-Shops, den Spielhallen und Wettbüros
Immer seltener am Tresen der Eckkneipen
denn das Gezapfte ist unbezahlbar geworden
und der Platz hinter dem Tresen
macht den Wirten und Wirtinnen immer weniger Spaß
und sie knallen die Gläser mürrisch und wortlos vor dir hin
und dann ist es besser
sich mit Billigwein oder Billigbier zu zukippen
und den Frust alleine zu erleben
vielleicht sogar zu überleben

Du triffst sie vor den Krankenhäusern
im Jogginganzug oder im Morgenmantel
umklammern sie ängstlich ihre Zigaretten
und telefonieren mit ihren Liebsten:
„Nein. Mach dir keine Sorgen. Nein. Ich weiß noch nichts. Bis später.“
und auf den Zimmern ist die Dauerberieselung der Glotze
und die Fischmaulatmung des sterbenden Bettnachbarn
die einzige Ablenkung
von den eigenen Schmerzen und Ängsten

Du triffst sie in einsamen Wohnungen
und vor kalten PC-Bildschirmen
im Eros-Center und am Hauptbahnhof
ohne Zug und ohne Ziel
und in Schulen und an Fließbändern
vor und hinter Tresen und Theken und Supermarktkassen
auf dem Friedhof
ober- und unterhalb der Erde
Du triffst sie überall

Der Kopf ist meistens auf den Boden gerichtet
in den Augen leuchtet nicht mehr viel
Was nutzt Farbfernsehen
wenn das Leben in Grau abläuft?
Wenn dir die Scheiße bis zum Hals steht
ist es schwer
sich frei zu schwimmen

Und ich fühle mich beinahe schuldig
und traue mich nicht
ihnen mein „Trotzdem!“ entgegen zu schreien
Sie würden es nicht verstehen
und sich beleidigt fühlen
und mein „Das Leben ist wunderbar":

Sie werden einen Dreck drauf geben
aber
sie sind in meinem Herzen
ob sie wollen oder nicht



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