Montag, 21. November 2011

Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben

Manche Gedichte werden mich wohl mein Leben lang begleiten. Ich schrieb dieses Gedicht 1993, 1998 änderte ich Kleinigkeiten und veröffentlichte es in „Seifenblasen im Schädel“. 2008 erschien es dann in der Anthologie „Grind the Nazi Scum“. Jetzt haben wir Ende 2011 und seit ein paar Tagen geht es mir nicht mehr aus dem Kopf, so dass ich es wieder einmal rausgekramt habe und in einer neuen Form in den Blog setze.
Mittlerweile wird bei der NSU von ca. 20 Unterstützern und Mittätern ausgegangen, die Zahlen steigen täglich. Über 180 Menschen wurden seit der WiederVereinigung mit rechtsradikalem Hintergrund ermordet. Ich könnte täglich neue Gruselmeldungen diesem Gedicht hinzufügen und das Schlimmste ist, dass es mich nicht mal besonders überrasch:


Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben 2011

Ich hab noch immer keinen Bock über Faschismus zu schreiben
Nazis:
Ich will sie gar nicht wahrnehmen
und wenn
dann will ich sie eigentlich nur auslachen

Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben
Die Sonne durchbricht die Wolken
ein klarer Himmel taucht auf
Mein Kontostand ermöglicht mir eine Auszahlung und einen
dicken Einkauf
Die Verkäuferin an der Käsetheke grinse ich an
sie grinst zurück
und an der Kasse wünsche ich der Kassiererin
einen schönen Tag
und sie strahlt mich an:
“Sie sind heute der erste Kunde
der mich persönlich wahrnimmt”

Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben
In meinem Auto
der frisch gemahlenen Kaffee - sein Duft lässt mich schweben
nein, das ist kein billiger Werbesatz - das ist so
Und wieder zu Hause
schmeiße ich erst mal einen an
und grinse mir einen
während ich zu Doors-Melodien rumhüpfe
und meine Bude in Ordnung bringe…

Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben
Ich koche eine chinesische Reispfanne
und während des Anbratens
lese ich die Tageszeitung
und habe immer noch keinerlei Bock über Faschismus zu schreiben

Ich hab keinen Bock über
Faschismus, Rassismus, Sexismus, Stammtischpolitik,
Volkesstimme,
Deutschland, Italien, Frankreich, USA, China, Russland, Ungarn, Somalia, Libyen, Syrien, Afghanistan, Iran, Irak, Palästina, Nigeria,
Solingen, Mölln, Dresden, Rostock, Leipzig, Jena, Zwickau,
Dortmund-Dorstfeld, Bochum, Bad Kleinen,
Stuttgart Stammheim
zu schreiben
Ich denke an ihre Brüste, ihren Arsch, ihr Zwinkern,
Ich denke an ihre Augen, die mich angrinsen,
selbst beim Erwachen
das ist schöner


Scheiße
ich hab jetzt keinen Bock über Faschismus zu schreiben
aber
brennende Menschen
grölende Horden
Wut über Asylverhinderung und Abschiebung, was nichts anderes besagt als
Deutschland den Deutschen
und das Grundgesetz ein Scherz und
polizeiliche Übergriffe an der Tagesordnung und
eine Bundeswehr mit braunen Dreck an Springerstiefeln und
braune Modeläden in Rostock und anderswo und
Aufmärsche in Dortmund von der Polizei gesichert und
die mordenden Neonazis
natürlich alle Einzeltäter
und aus Dreizelgängern werden in Stunden Achtelgänger und dann
gibt es doch Verbündete und Netzwerke und plötzlich
taucht das unaussprechliche Wort auf:
Rechtsterrorismus
den es ja eigentlich offiziell gar nicht geben soll

Ich hab keinen Bock über Neonazis zu schreiben
Der Verfassungsschutz
schützt Nazis und V-Leute
bespitzeln sich gegenseitig
und ich bin gegen ein NPD-Verbot:
Verbote haben wir schon mehr als genug
was uns fehlt
ist ein Klima der Menschlichkeit
dann bräuchte man diese Hohlköpfe nicht verbieten,
sie würden irgendwann von selber in der Bedeutungslosigkeit verschwinden
da bin ich sicher

Antifaschisten leben hier und heute mit der ständigen Angst
vor Schlägen, Anschlägen und mehr
Menschen mit Migrationshintergrund
(manchmal brauch es fürchterliche Worte)
meiden U-Bahnen oder betreten sie nur in Gruppen
Sogenannte No-Go-Areas
gibt es bald öfters als Fußgängerzonen

Faschismus und Neonazis hier in Deutschland
Jetzt
Nicht vor 70 Jahren

Damals wurden erst die Bücher
und dann die Menschen verbrannt
Heute läuft das raffinierter
und brennende Menschen
sind eher noch Schönheitsfehler vorschneller Aktivisten

Scheiße
Ich weiß kein Asylland für uns

Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben
würde Nazis viel lieber ignorieren
In Halberstadt verprügelten sie Schauspieler
einfach weil die anders aussahen
Die Polizei guckte weg
Zwei Freisprüche gab es für Aussageverweigerer
und nur einen Schuldspruch – ein politischer Hintergrund wurde ausgeschlossen
und die Morde an den ausländischen Mitbürgern
wurden in den letzten zehn Jahren auf die Mafia oder
Stammesfehden oder die bekannten Einzeltäter geschoben
bis die NSU auftauchte
und den Verfassungsschmutz entlarvte
und plötzlich landesweite Empörung regiert
Alleine der Begriff Döner-Morde
zeigt mir
in welch dunklen Zeiten ich lebe

Aber ich möchte ja gar nicht über Faschismus schreiben
Wenn ich ihn nicht täglich spüren würde
wären die Sternschnuppen dieser Nacht
ein viel schöneres Thema

Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben
Ich habe keinen Bock über Krankheit, Geldsorgen, Krieg und Politik
zu schreiben
Ich habe keinen Bock über Demokratie zu schreiben
es gibt genug gute Märchenbücher
und mittlerweile wird auch dem letzten Gutgläubigen klar
dass nur der Finanzmarkt die Macht hat


Ich habe keinen Bock
auf solche Gedichte
aber diese Themen hetzen mich durch den Tag
und dieses Gedicht wird
immer unpoetischer
weil wütender

Ich habe Bock über meine Frau und unsere Liebe zu schreiben
ich habe Bock
die Musik und den Rhythmus im Herzen zu beschreiben
Unsere Hündin oder die Reiher auf unserem Dorfteich und
die gewaltigen Bäume im Park
- in ihren Rinden entdecke ich eingekratzte Hakenkreuze

Ich hab keinen Bock über Faschismus zu schreiben
vielleicht ist das ja wirklich
irgendwann nicht mehr nötig

Dann verspreche ich euch Liebeslieder
die
schreibe ich jetzt schon viel lieber

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