Donnerstag, 11. Oktober 2018

Sollte ich jemals erwachsen werden werde ich Anarchist





Die Möglichkeit, jemals in meinem Leben erwachsen zu werden ist gering. Ich werde bald 55 Jahre alt und fühle mich immer noch nur bedingt erwachsen.
Okay, ich schnalle mich mittlerweile beim Autofahren an und übernehme Verantwortung für meine Frau und meine Hunde,
ansonsten ist da wenig, was ich mit dem Begriff „Erwachsen“ verbinde.
Was kann ich tun?
Ich bin aus dem Arbeitsleben gezwungenermaßen raus
(vor 11 Jahren war ich beinah erwachsen, aber dann kam dieser miese fiese Krebs – ich muss allerdings gestehen, dass ich mir erwachsen und etabliert nicht besonders gefiel…)
und will leben und scheiße darauf, erwachsen zu werden.
Vielleicht das Rezept für ewige Jugend, wer weiß…

Anarchie. Meine Utopie, mein Traum.
Ich mag Worte / Begrifflichkeiten / Sachen,
die sich nicht eindeutig definieren lassen,
die Spielraum für viele Deutungen und Theorien offenlassen.
Seele.
Liebe.
Poesie.
Und eben auch Anarchie.

Anarchie ist allgemeingültig erstmal die Lehre
(Halt: Ne Philosophie? Ne Utopie? N Gesellschaftsmodell? Vielleicht nur ein Synonym?)
von absoluter Freiheit und Herrschaftslosigkeit.
Punkt.
Soweit, so klar.

Und spätestens ab diesem Punkt gibt es zahlreiche theoretische Ansätze und Schriften, die sich unterscheiden und teilweise auch widersprechen.
Ich bin da kein Fachmann, theoretische Schriften langweilen mich und ich habe irgendwann aufgehört, sie zu lesen. Ich bin noch nicht erwachsen.

Ich selbst bezeichne mich als „Gefühlsanarchisten“.
Diesen Begriff habe ich zum ersten Mal bei Konstantin Wecker gelesen und kann ihn für mich einfach nur übernehmen.
Was ist erstrebenswerter,
als eine Welt, in der niemand regiert und alle Menschen frei sind?
Eine Welt, in der Geld und Macht unbedeutend sind?
In der alle miteinander in Frieden und Liebe leben?
Natürlich ist das eine Utopie.
Aber was spricht gegen Träume?

Ich habe keine konkreten Aktionsvorschläge bis zu meinem Traum.
Ich werde ihn auch nie verwirklicht sehen.
Wahrscheinlich braucht es noch zig Revolutionen oder auch Untergangsszenarien, bis er Wirklichkeit wird.
Aber er kann Wirklichkeit werden.
Genau wie die Menschheit, die vielleicht irgendwann menschlich werden kann.

Ich bin ein Träumer, kein Aktivist.
Meine Aktivitäten beschränken sich auf die Tastatur meines Compis.
Gerne würde ich sagen, „This machine kills faschism“.
Ich weiß, dass dies nicht so ist.

Ich glaube einfach an die Anarchie.
Manche Menschen glauben an Götter und Göttinnen, das sollen sie tuen.
Ich glaube an den Menschen und die Menschheit,
auch wenn sie mich jeden Tag vom Gegenteil überzeugen.

Gesellschaftsformen und Modelle sind fast alle gescheitert.
Absolute Monarchie war fast nie der Bringer.
Autokratien ebenfalls nicht.

Der damals real existierende Mus, ob Kommunismus, Sozialismus oder der unmenschliche Faschismus sind jeweils fürchterlich gescheitert.
Die Demokratie entwickelt sich leider weltweit momentan zu einem weiteren Mus, den Populismus. Auch der wird scheitern.
Vielleicht erst in ein paar Jahren, aber dann kommt eine Katastrophe auf uns zu, die ich mir nicht ausmalen möchte, vor der ich Angst habe und wo ich mir sage, „Scheiße, aber wir haben es nicht besser verdient.“

Nein.
Ich will momentan keine Revolution.
Mir fehlen die Ziele.
Und ich muss gestehen, dass wir in einem Staat und einer Staatsform leben, in dem wir noch relativ viele Freiheiten haben. Das Grundgesetz ist ja nicht verkehrt und diese Demokratie wäre eine Basis, um mehr Freiheiten zu erreichen.
Leider geht es genau in die entgegengesetzte Richtung und da versuche ich gegenzuhalten.
Mit meinen Fingern an der Tastatur.
Mehr kann ich nicht.

Freiheit.
Herrschaftslosigkeit.
In kleinen Bereichen, zum Beispiel bei indigenen Völkern oder bei alternativen Lebensgemeinschaften hat es funktioniert.
Scheiterte allerdings oft auch fürchterlich.
Trotzdem: Ich darf doch träumen, oder?

Ich bin nicht erwachsen.
Ich laufe mit den Hunden über die Felder und freue mich.
Ich liebe die Frau meines Lebens.
Und ich scheitere bei den gesellschaftlichen und politischen Bewegungen in diesem Land und dieser Welt. Und resigniere.

Wäre ich erwachsen, dann wäre ich vielleicht Anarchist.
Mit allen Konsequenzen.
Wie immer die aussehen würden…




Dienstag, 2. Oktober 2018

Christine



(ich bin mir nicht sicher, ob ich so etwas vor dem Tod schreiben darf, aber da das Sterben in nächster Zeit unausweichlich erscheint und ich momentan diese Gedanken habe, ist dieses Gedicht für meine sterbende Freundin eben jetzt entstanden:)





Abschiednehmen fällt schwer

& ist scheiße



Es fing vor ungefähr einem Jahr an

Rückenschmerzen und andere Beschwerden

die einfach nicht besser wurden

und dann die endgültige Diagnose:

Krebs

und dann ging es schnell bergab

und ich sah die MRT-Bilder

und dachte da schon

„Fuck. No chance.“



Krebs ist ein Arschloch

Immer

Und mir hatte man auch keine Chance gegeben

aber ich lebe immer noch

Auch daran wollte sie sich aufrichten

Und an unsere Freundschaft und Zuneigung

aber ich bin ein alter und kranker Mann

und kann nur bedingt helfen



Krebs ist ein Arschloch

und erwischte sie in seiner ekelhaftesten Form



Immer wieder Hoffnungen

auch wenn sie unrealistisch waren

Immer wieder aufstehen

auch wenn es nur bergab ging



Christine heiratete ihre Liebe

und das waren wunderschöne Feiern

und das gibt ihr Kraft

Christine hat ihre Familie und ihre Freundinnen

und das ist groß

und wahnsinnig viel

Christine hat ihre Töchter

Christine hat Torsten

der immer bei ihr ist

Christine stirbt



Stunden? Tage? Wochen?

Kein Arzt und kein Mensch weiß es

Nur der Endspurt

der ist unausweichlich angebrochen



Gestern habe ich sie mit meiner Frau nochmal besucht

und dieses letzte bisschen von ihr

umarmte ich

und da war noch ihre Wärme

und nicht nur das Krebsfieber

und ich unterdrückte meine Tränen

und ich bin lange nicht so stark

wie sie



Christine

Monster Christine

wie sie sich scherzhaft selber nennt

Immer noch kämpft sie

auch wenn es aussichtslos ist

und gibt nicht auf

und ich wünsche mir nur

dass sie loslassen kann



Krebs ist ein Arschloch

und ihre Schmerzen unbeschreiblich

und nun ist da

eine wunderbare Frau

zum

Skelett abgemagert

aber immer noch lächelnd

und ich nehme sie in den Arm

und sage ihr:



„Christine

 du wirst immer bei uns sein.“



Ein Teil von Christine wird gehen

und wir werden trauern

aber in unseren Herzen wird sie immer weiterleben

und ich bin mir sicher

Sie will Einhörner und Kitsch

Und ganz viel Liebe

und ein tolles Leben

für uns alle



Auch wenn ich erstmal zusammenbreche

werde ich aufstehen

und an ihrem Grab Seifenblasen aufsteigen lassen

Ich bin mir sicher

dass sie genau das will



Christine:

Ich wünsche dir eine gute Reise

wohin auch immer



Wir lieben dich!


Wake Me Up When September Ends




Am 30ten September habe ich diesen Blogeintrag angefangen. Und die To-Do-Liste für die erste Oktober-Woche beschrieben.
Der erste Oktober war da noch freigehalten, um unseren 8ten Hochzeitstag zu feiern.
Und am 3ten Oktober wollten wir unsere Freundin in Köln besuchen, die auf einer Palliativstation ihr Leben beendet.
Ein Chat kippte diesen Plan um: Es war unsicher, ob sie noch bis Mittwoch lebt, so fuhren wir schon an unserem Hochzeitstag nach Köln.
Die Hinfahrt dauerte über drei Stunden aber der Besuch war sehr intensiv. Und für beide Seiten traurig, aber auch wichtig und richtig.
Jetzt sitzen wir wieder zuhause und zucken bei jedem Handyklingeln zusammen, warten auf die abschließende Nachricht und zittern und sind traurig.
Der momentane Plan der ersten Oktober-Woche sieht so aus:
-         01.10. Hochzeitstag, Christine à done
-         02.10. Zahnarztfahrt nach Herne (bei den Straßenverhältnissen zweieinhalb Stunden hin, eine Stunde zurück. 30 Minuten voller Panik den Autoschlüssel gesucht: Auf dem Weg zum Parkautomaten ist mir der aus der Jackentasche gefallen, eine nette Dame fand ihn und nahm ihn an sich und suchte das passende Auto, indem sie auf den Türöffner drückte. Ich suchte ebenfalls. In entgegengesetzter Richtung und immer meinen Weg ab. Glücklicherweise fanden wir uns dann. Beim Zahnarzt war das Ding dann nach ner viertel Stunde erledigt, aber der Tag im Arsch. à done
-         03.10. Geburtstag eines Pflegesohns von Gisela, blöderweise mit einer Frühstücksfeier. Und 09.30 Uhr ist schwierig, bei der Versorgung der dementen Gisela und unserer zwei Hunde…
-         04.10. Nachmittags kommt ein Kollege aus unserer Altentherapeuten-Weiterbildung, der am 05.10. auf Gisela und unsere Hunde aufpasst.
-         05.10. Hochzeit meiner Nichte, meines Patenkindes in Castrop-Rauxel.
Und Mann: Ich freue mich für Lisa!
Und natürlich feiern wir den Tag mit ihr und ihrem Mann!
Matsch Staff.
Ziemlich viel.
Dazu kommen ja noch Alltagskram und Schreiberei. Und Musik und Liebe.
Ich muss wach bleiben, ich muss fit bleiben.
Und ich liebe es.


Merkwürdige, aber absolute Musikempfehlung:
Theodor Shitstorm!
Dieses Pop (?) – Duo läuft bei mir in ziemlicher Dauerschleife (unterbrochen von Nick Cave, Robbie Williams und David Bowie, wegen meiner Gedanken an Christine…).
Musikalisch nicht besonders toll, gesangstechnisch eher Mittelmaß, ich könnte die abhaken. Aber da sind wunderbare Texte, die sich in die Melodien einfügen und ich entdecke bei jedem Hören neue Perlen.
Ironie, Poesie, massig Poesie und eine Leichtigkeit und Tiefe – all das auf einmal:
Hört euch das an, aber nicht als Hintergrunddudelei, sondern wirklich in Ruhe! Absolut geil!
Beim ersten Hören dachte ich: „Naja, brauch ich nicht…“. Beim zweiten Hören wurde ich hellhörig und beim dritten Hören musste ich mir die Platte runterladen.
In einer Woche werde ich sie mitsingen können.


Ich halte mich jetzt kurz bei meinen Gefühlen, Ängsten und Erwartungen an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen in diesem Land und dieser Zeit.
Ich würde mich ansonsten nur auskotzen.
Ich will wieder Utopien und etwas, an das ich glauben kann.
Aber ich habe da nix.
Und es wird schlimmer werden.
Und ich bin dann wieder einfach nur resigniert…
Dabei will ich ja aufwachen und fit bleiben.


Jetzt habe ich noch ein paar Gedichte im Kopf und in den Fingern.
Und werde arbeiten, das heißt, schreiben und trinken und rauchen.


Hatte ich schon lange nicht mehr.


Lasst euch überraschen…