Die Stille
Wo fängt das Gruseln an? Wo der Horror?
Wie kann ich es beschreiben, dass es nachvollziehbar wird,
im Idealfall sogar mitfühlbar?
Es sind ja nicht das spritzende Blut, der Bohrer, der in den
Kopf eindringt, die abgetrennten Genitalien oder die unpassend in alle
möglichen Körperöffnungen gestoßenen Folterwerkzeuge. All das ist Kinderkram.
Es ist die Gänsehaut. Ist das Frösteln, das Unwohlsein. Und
die Angst, vor allem die Angst vor dem Unbestimmten und Unfassbaren.
Wie teile ich Euch das mit?
Als ich ungefähr fünf Jahre alt war wurde ein altes
Krankenhaus bei uns geschlossen und das Gebäude später dann abgerissen.
Wir Kinder hatten das Glück, in der Ruine Mutproben
durchzuführen. Natürlich strengstens verboten aber gerade deshalb spannend.
Die gruseligste Mutprobe war die Leichenhalle der Ruine:
Dort alleine reinzugehen und ein, zwei Minuten drin zu
bleiben war der reinste Horror. Ich hatte das Gefühl, irgendwelche Geister
würden mich berühren und der Geruch von scharfen Desinfektionsmitteln
verursacht mir noch heute Beklemmungen.
Später als erwachsener Mensch sollte ich noch oft
Leichenhallen betreten. Als Krankenpfleger muss man das. Aber es machte mir
nichts aus, auch die Berührung von Leichen oder das Waschen der Verstorbenen
war kein Problem.
Es war fassbar und nachvollziehbar für mich geworden.
Und ich glaube, dass es gerade das Unfassbare, Unbekannte
und Unerklärbare ist, was uns Angst macht.
Ich mag Splatterfilme, finde sie lustig. Aber durch die
explizite Darstellung wird da jeglicher Horror genommen. Grusel oder Horror
entsteht eher durch die Atmosphäre. Ne Kamera von hinten, diffuses Licht,
spannungsaufbauende Filmmusik. Und unerwartete Wendungen. Ich erinnere mich an
Kill Bill, aber der Film löste keinerlei Grusel bei mir aus.
Ich erinnere mich an das Schweigen der Lämmer. Diesen Film
guckte ich in einer Sonntagsmorgen-Matinee im Kino, ich war verkatert. Und nach
dem Film völlig fertig und noch Tage später ziemlich geschockt.
Das ist für mich Horror.
N Beispiel aus einem anderen Bereich:
Pornos sind langweilig. Agierende Geschlechtsteile in
Nahaufnahme braucht doch kein Mensch. Aber Erotikfilme, in denen die Menschen
angezogen sind und der Geschlechtsakt nicht in allen Einzelheiten gezeigt wird
können mich anturnen.
So in der Art…
Diese lange Vorrede erklärt vielleicht in Ansätzen den
Grusel folgender Begebenheit, vielleicht auch nicht. Vielleicht kann ich es gar
nicht erklären. Ich versuche es trotzdem.
Es war ein warmer Sommernachmittag und meine Frau und ich
beschlossen, mit unserer Hündin einen kleinen Ausflug zu machen und mal eine
andere Gegend zu erkunden.
Wir fuhren zu einer entfernten Stelle des Flusses, parkten
unser Auto, schulterten den Rucksack und machten uns auf den Weg.
Claudia wollte zu einer Burgruine auf der anderen Seite des
Flusses. Als Kind hatte sie dort öfters Ausflüge gemacht, war sich aber nicht
sicher, ob sie den Weg noch finden würde. Mir war es egal. Mein Ziel war der
Weg. Der Spaziergang mit Frau und Hündin, die enge Verbundenheit und das feste
Band zwischen uns. Ich genoss erstmal nur.
Die Sonne knallte und der Himmel war hellblau, mit
Schäfchenwolken durchzogen. Für den frühen Abend waren Gewitter angesagt, aber
die Schwüle sollte uns erst erwischen, als wir den Fluss überquert hatten.
Manchmal ist es merkwürdig. Die friedliche und freundliche
Stimmung unseres Spaziergangs schlug direkt um, als wir die Fußgängerbrücke
über den Fluss überquerten.
Der Pfad entfernte sich auf der anderen Seite vom Ufer,
endete an einer schmalen Straße, die an einem schmutzigen Waldrand entlang
führte.
Eine Industrieruine, alte Abfälle am Straßenrand und
plötzlich kein Mensch außer uns auf der Landstraße.
Claudia wurde immer unsicherer, was den Weg anging. Wir
entschlossen uns, bergauf zu gehen, da Burgruinen ja eher selten in Tälern zu
finden sind. Ich begann zu schwitzen.
Maya, unsere Hündin, zog immer heftiger an der Leine. Nicht
weil sie spielen wollte oder irgendeine Kaninchenspur entdeckt hatte, sondern
stur geradeaus auf der Straße, als wollte sie nur weg.
Die Atmosphäre wurde drückender. Unerträgliche Schwüle
umhüllte uns und auch wenn keine Wolken am Himmel sichtbar wurden, es wurde
düsterer. Das lag auch an dem dichter werdenden Wald, der aber eher
schmutzig-grünes Laub trug und keinerlei positive Waldgefühle vermittelte.
Wir schauten uns an.
„Spürst du das auch?“
Ich nickte.
Claudia ist für Stimmungen sehr empfänglich. Auch für
parapsychologische. Ich normalerweise weniger, was ich allerdings sehr gut
wahrnehme, sind zwischenmenschliche Schwingungen und die Atmosphäre in sozialen
Gruppen. Diesmal spürten wir beide diese feindliche Stimmung der Umgebung.
Wir konnten es nicht festmachen, aber die Bedrückung und
unser ungutes Gefühl verstärkten sich zunehmend.
Wir fühlten uns verfolgt, beobachtet, belauert. Wir fühlten
uns scheiße.
Auch Maya merkte etwas und sie jaulte und knurrte leise, was
sie sonst selten tut.
Ihr Nackenfell war steil aufgerichtet und der Schwanz
eingeklemmt.
Wir waren nicht willkommen. Eindeutig.
Die vereinzelten Häuser am Straßenrand wirkten grau, wie aus
alten Ruhrpottzeiten, als die Kokereien die Farben der Hausfronten in
schmutzigem Grau malten. Die Fenster waren mit vergilbten Gardinen behängt.
Menschen sahen wir keine.
Wir kehrten um.
Die Schwüle der Luft war mittlerweile unerträglich. Es wehte
kein Hauch. Und es war still.
„Hörst du das auch?“
„Ich höre nichts. Und seit gefühlten Stunden sind wir noch
nicht mal von einem Auto überholt worden.“
„Stimmt. Es ist still. Keine Vögel. Nichts. Gespenstisch.“
„Ja.“
„Lass uns schneller gehen…“
Das taten wir.
Der Spuk endete punktgenau als wir wieder die Flussbrücke
überquerten.
Plötzlich riss der Himmel wieder auf und selbst die
Gewitterschwüle war plötzlich verschwunden.
Wir atmeten auf.
Entspannten uns in einem Biergarten.
Und haben diese Gegend nie wieder betreten.
Okay. Das Arrangement für eine Gruselgeschichte ist
vorhanden.
Und was passiert?
Nichts.
Vielleicht lasse ich irgendwann irgendwas passieren.
Bis dahin müsst ihr euch mit einer Beschreibung des Gefühls
zufrieden geben.
Ich wünsch euch angenehme Träume…
( Geschrieben für „Der lachende Totenschädel Nr.2. Erschien
dort im September 2014. Herausgeber: Jörg Herbig.
Weitere Beiträge von Sebastian Brückner, Sybille Lengauer, Jerk Götterwind, Uwe Voehl, Markus K. Korb, Bettina Sternberg, Markus Hintzen, Kai, Andromedar Nebel und Jörg Herbig.
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Kontakt über: „Fledermaus und der lachende Totenschädel“
oder Jörg Herbig bei Facebook.)
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