Dienstag, 22. Februar 2011

Meine OP

Lange nichts mehr gebloggt.
Wenn ich abends n Post fast fertig hatte war er am nächsten Morgen von der aktuellen Entwicklung schon wieder überrollt. Ich sag nur Ägypten. Ich sag nur Libyen. Und Guttenberg, ohne Doktor, dafür mit dem Baron von Münchhausen HC - Titel.
Als Beleg meiner weiteren fleißigen Schreibtischtaten setze ich jetzt mal hier n kleinen Auszug aus meinem langen Prosatexzt rein. Glaubt es mir: das ganze ist schweineanstrengend. Nicht nur wegen der Arbeit, sondern vor allem wegen der persönlichen Betroffenheit:

Der entscheidende Morgen. OP-Hemd. OP-Haube. Die Scheißegal-Pillen. Klasse! Jetzt ist es mir wirklich scheißegal. Ich lache und versuche Witze zu machen, aber irgendwie funktioniert das nicht. Dann schieben sie mich durch den Nebel. Ich glaube, mir ist kalt. Ich weiß, ich hab Angst. Dann weiß ich nichts mehr…

Ich habe eine Erektion. Eine geile Blonde fummelt an meinem Penis, manipuliert, benutzt die Hände. Ja! Nimm ihn in den Mund! Schluckst du auch? Sie führt mir etwas in meine Harnröhre, die Erektion schwindet, das ist nicht meine Form von Sex.
Trompetensolo. Eigentlich mag ich keine Trompeten. Es schaukelt. Bin ich auf einem Boot? Ich bin auf einer Fähre auf dem Ozean. An der Reling steht Helga Feddersen und der unvergleichliche Sven Regener singt. „Niemand ist gern allein, mitten im Atlantik / diesmal, mein Herz, diesmal fährst du mit“.
 Ich muss kotzen. Nee, muss ich gar nicht. Überall Blut. Die Putzfrau wischt es auf – halt, das heißt ja jetzt Reinigungsfachkraft. Aber deshalb bekommt sie auch nicht mehr Geld. Es wackelt. Ich knutsche. Ein geiler Zungenkuss mit einer Unbekannten, unser Speichel vermischt sich. Als wir den Kuss beenden greift sie meine Zunge mit den Fingern und schneidet sie ab. Dann kratzt sie mit einem Löffel meinen Mund aus. Es regnet, Gott segnet, die Erde wird nass. Ich habe keine Schmerzen, ich spüre nichts. Ist das hier ein Traum? Träumt man in der Narkose? Ich sehe einen Engel. Ich sehe mich auf dem OP-Tisch. Ach so: ich habe einen Katheter. Is nix mit Oralsex – war nur das Katheterlegen.
Blut, Schleim, aufgesägte Knochen. Verbranntes Fleisch. Die Decke bröckelt über mir. Merken das diese Idioten denn nicht? Der Putz rieselt auf mein Gesicht, ich habe einen dicken Brocken in meinem Mund, verschlucke mich daran, ersticke. Nee. Jetzt ist er runter gerutscht. Ich ersticke doch nicht. Muss scheißen. Kann es nicht halten. Egal.
 Rio singt von einer vergangenen Liebe. Junimond im Januar. Ich zerfließe. Fühle Brüste, große Brüste. Versteifte Brustwarzen. Ich nuckel immer gerne. Ich trete die Brüste – auf einmal haben sie sich in Fußbälle verwandelt. Ein klasse Schuss von mir, aber der Torwart fliegt und klatscht den Ball noch um den Pfosten. Der Torwart bin ich. Verbranntes Fleisch, brennende Haare. Es stinkt erbärmlich aber meine Nase ist zu, gefüllt mit irgendwas – was weiß denn ich. Ich will schlafen. Das ist ekelhaft. Merken die denn nicht, dass die Narkose gar nicht anschlägt, ich den Horror live erlebe?
Ich springe vom 3-Meter-Brett und tauche glatt in das kalte, perlende Wasser. Schön.
Ich tauche ab und bin wieder weg…
Es stürmt.
Break.
Weiß. Alles weiß. Ich tauche ein in weißes Licht, werde zu weißem Licht. Irgendwie so. Oder anders. Nicht in Worte zu fassen. Ich bin weißes Licht.
Break.
Ich habe Angst vor der Liebe.
Ich habe Bock auf Zärtlichkeit, Bock auf Nähe, Bock auf Wärme und Bock auf Gemeinsamkeit. Aber ich habe Angst vor der Liebe und bei mir kommt die Liebe schon oft bei nur einer dieser Sachen angeschlichen. Und hat mich dann im Griff. Aber volle Kanne.
Eines meiner Probleme: ich verliebe mich zu schnell. Und dann halte ich zu fest und dann will ich nicht mehr loslassen und dann falle ich irgendwann auf die Schnauze und dann tut es wieder höllisch weh. Und das tut es dann immer:
höllisch weh.
Break.
Wo bin ich? Bin ich noch am Leben? Wer bin ich? Was bin ich? Warum bin ich? Bin ich?
Break.
Ich auf der Schulter meines Vaters. Pferderennen in Castrop-Rauxel. Ich bin ca. 4 Jahre alt. Und fühle mich unbesiegbar. Beschützt. Viel zu selten hat mein Vater mir dieses Gefühl vermittelt.
Break.
Ich in einem Krankenzimmer. Ich bin 5 Jahre alt und hatte einen Unfall. Die Kette meines Fahrrads war gerissen, ungebremst fuhr ich ein Gefälle runter, knallte mit dem Vorderrad an die Bordsteinkante, flog und überschlug mich, landete mit dem Kopf an einer Mauer. Gehirnerschütterung, Armbruch, Nasenbeinbruch, Kieferbruch. Meine Mutter füttert mich mit einer Schnabeltasse und frisch gekochter Suppe. Meine Schwester und meine Freunde stehen unten vor dem Fenster und rufen nach mir. Sie dürfen das Krankenzimmer nicht betreten. Eine riesige Zahnlücke wird mich bis zu meinem achtzehnten Geburtstag begleiten. Ich bin fest überzeugt, dass der Kieferbruch und die seit frühester Kindheit fehlenden Schneidezähne und die ständige Zahnklammer mit Auslöser für den Krebs sind. Nicht nur das Rauchen.
Break.
„Ich bin doch gerade erst gewaschen worden!“
Ich weiß, dass das nicht stimmt.
„Aua! Du tust mir weh!“
Ich habe sie noch gar nicht berührt.
Die Dame im Bett ist eine meiner Lieblingspatientinnen. Sie hat fürchterliche Angst, vor jeder Bewegung und jeder Berührung.
Ich versuche, zügig und vorsichtig nur das Nötigste zu machen. Eine Intimpflege und den alten Schweiß entfernen. Das muss einfach sein, sonst geht mir diese Dame noch mehr auf, wird zur liegenden Ganzkörperwunde. Und hat dann noch mehr Schmerzen.
Nach der Körperpflege setze ich mich an die Bettkante, nehme ihre Hand. Sie wird ruhig, entspannt sich. Grinst mich an:
„Ich habe dich lieb…“
Ich nicke: „Ich sie auch…“
Break.
All diese Bilder. Jedes Bild erzählt eine Geschichte. Wie ein Stummfilm läuft das ab. Ist das mein Leben, das sich vor meinem inneren Auge abspult?
Ich sehe Thomas, Susanne, Karen, Anne. Ich sehe meine biologische Schwester, obwohl ich die vier Freunde eher als meine wahre Geschwister bezeichnen würde. Blutsbrüderschaft oder so. Aber von Blut will ich nichts wissen.
Ich sehe meine Mutter, sie weint. Sie soll damit aufhören! Wenn, dann hätte ich einen Grund zu weinen! Jetzt muss ich sie trösten.
Irgendwie weinen plötzlich alle. Selbst Thomas. Da muss ich auch weinen. Meine Tränen vermischen sich mit Blut.
Break.
Ich liege in einer Pfütze. Das Wasser rinnt aus all meinen Poren und füllt das Krankenbett. Wenn die das nicht bald wegmachen, werde ich ertrinken! Ich habe keine Beine und Arme mehr. Was ist das auf meinem Hals? Das ist doch nicht mein Kopf! Was ist das in meinem Hals? Das gehört da nicht hin! Ich kriege keine Luft mehr! Hilfe!
Und dann kommt endlich wieder diese milchige Nebelsuppe. Hüllt mich ein, wie in Watte. So möchte ich bleiben.
Break.
In und um mir Musik. Neben mir Thomas, der seine Riffs auf der Gitarre spielt und mich im Rhythmus stützt. Anne gibt an den Drums einen tierischen Beat vor, treibt uns an. Klaus hämmert das Bass-Grundgerüst. Ich dresche auf meine Gitarre ein, tanze zum Mikro. Singe Jenseits von Eden. Plötzlich steht Rio Reiser neben mir, stimmt ein:
„Heiß heiß kochend heiß
 weiß weiß blühend weiß
 Liebe was ist das
 das ist das Leben in der Stadt
 Was soll daran schlecht sein
 Liebe kommt von Unten
 Liebe hat schwache Worte
 Ich will nicht, dass du in schwarz gehst
 wenn ich tot bin
 Ach ich bin so müde
 Will zurück ins Leere
 Heiß!“
Was soll das? Dieses Lied können wir unmöglich covern! Rio ist viel zu gut! Da kann man sich doch nur blamieren!
Merkwürdigerweise schaffen wir es. Ich komme sogar mit der Atmung und dem Gesang klar. Und wir stecken voller Energie, vereinigen diese, können sie in unsere Instrumente packen und bringen es voll rüber! Dieses geile Gefühl ist unbeschreiblich. Ein gemeinsamer Orgasmus. Ein Rausch, völlig ohne Drogen und deshalb klar und umso intensiver. Heiß!!!
Break.
Ich glaube, langsam tauche ich auf.
Wenn mich nicht alles täuscht, dann höre ich einen fürchterlichen Sturm. Aber das muss Draußen sein. Irgendjemand wischt irgendwas auf. Bilde ich mir das ein, oder haben sich da wirklich Fliesen von der Wand gelöst? Wo bin ich?
„Atmen sie! Sie müssen atmen!“
Ich mache es. Werden von der künstlichen Beatmung abgestöpselt. Versuche, zu sprechen.
„Nur ruhig. Sie liegen auf der Intensivstation und haben die Operation überstanden. Gleich werden sie abgeholt und zurück auf ihr Zimmer gebracht.“
Eine Schwester und ein Pfleger. Ich nehme sie kaum wahr. Bekomme aber mit, dass sie sich fürsorglich und intensiv um mich kümmern.
Bin ich jetzt wirklich wieder da? Oder ist das nur ein anderer, etwas freundlicher Traum?
Ich kann mich nicht bewegen. Es kommt mir vor, als hätte ich überall Schläuche und künstliche Ein- und Ausgänge. Dann kommt eine Krankenschwester, die ich zu kennen glaube.
„Hallo Herr Borgerding. Wir bringen sie wieder zurück.“
Keine Ahnung, wie oder was. Aber ich habe es überstanden. Aus meinen Augen fließen Tränen. Ein Sturzbach. Ich weine ungehemmt.
Ich lebe.


Dienstag, 1. Februar 2011

das haus der lügen


Das Haus der Lügen

Mein Haus der Lügen hieß Adalbert Stifter Gymnasium
Ich lernte dort
zu saufen, zu rauchen, zu kiffen
und zu versumpfen
Da hatte ich
gute Lehrer

Bildung und Wissen
besorgte ich mir aus den Nebensätzen
und dem Nichtgesagten des Lehrkörpers
Ich lernte Skepsis und Misstrauen
und bin da noch heute
sehr dankbar drüber

Als ich laut hinterfragte und kritisierte
blieb ich sitzen
Als ich mich zudröhnte und
nur noch selten zum Unterricht erschien
schaffte ich ein akzeptables Abitur
Noch Fragen?

Menschliche Wracks, Alkoholiker,
desillusionierte Idealisten
Ein Lehrerkollegium ist eine Horror-Show
gescheiterter Existenzen
die ihre Niederlagen an Schülern rächen
Ich glaube
so was nennt man dann Pädagogen
Größtenteils arme Wichte
Da sie keine Autorität besitzen
ersetzen sie diese durch Autokratie
Am schlimmsten
(und ich schäme mich noch heute,
dies eingestehen zu müssen)
waren damals die so genannten linken Lehrer
die sich für fortschrittlich und demokratisch hielten
und ihre Machtgelüste an uns Schüler ausließen
Ich weigerte mich
sie zu duzen
und beleidigte sie damit zutiefst

Meine wahren Schulen waren
der Stadtpark, die Rennbahn, das Ruhr-Stadion
und das Strandcafe
Auch dort lernte ich aus Nebensätzen,
Nichtgesagtem und Träumen
Ein Rock-Song brachte mir mehr bei
als ein ganzes Schuljahr

Schöne und wichtige Sachen in der Jugend
passierten trotz der Schule
und nicht wegen ihr
In der Schule lernte ich nicht für das Leben
aber das Leben brachte mir dann doch Einiges bei

Eines war und ist für mich dabei klar:
Feuerzangenbowlenromantik
ist bei mir nicht drin